Wahl der EU-Kommissionspräsidentin: Von der Leyens Eiertanz
Von der Leyen will am Donnerstag wieder zur Kommissionspräsidentin gewählt werden. Ihr Werben um die Rechten könnte sie wichtige Stimmen kosten.
Ursula von der Leyen stand auf keinem Wahlzettel. Und nur knapp ein Drittel der Wähler haben ihrer konservativen Parteienfamilie bei der Europawahl im Juni die Stimme gegeben. Dennoch will sich die CDU-Politikerin am Donnerstag im Europaparlament in Straßburg wieder zur Präsidentin der EU-Kommission wählen lassen – mit Stimmen aus allen Lagern, ohne feste Koalition oder klares Programm.
Kann das gut gehen? Werden vage Versprechen, die von der Leyen allen Parlamentsfraktionen in nicht öffentlichen Hinterzimmergesprächen gemacht hat, für die Wiederwahl reichen? Das fragen sich nicht nur die zahlreichen Kritiker – von Martin Sonneborn (Die Partei) bis hin zu Fabio De Masi (BSW), die von der Leyen wegen ihrer nicht aufgeklärten Affären und umstrittenen Deals attackieren.
Zweifel hat auch Daniel Freund. Der deutsche Grünen-Abgeordnete hat gegen die Kommission vor dem höchsten EU-Gericht geklagt, weil diese 10 Milliarden Euro an Ungarn ausgezahlt hatte – trotz ungelöster Rechtsstaats-Probleme unter Regierungschef Viktor Orbán. Freund und die Grünen wollen dennoch – zusammen mit der konservativen EVP, den Sozialdemokraten und den Liberalen – für von der Leyen stimmen. Man müsse abwägen und eine proeuropäische Mehrheit sichern, sagte Freund der taz. Schließlich stehe angesichts von Donald Trump und Wladimir Putin viel auf dem Spiel. Doch ob das reicht, um die notwendigen 361 Stimmen zu holen, ist unklar. Und ganz sicher ist die Zusage der Grünen noch nicht.
Die Entscheidung könnte in letzter Minute fallen: Nach der Regierungserklärung, die von der Leyen am Donnerstagvormittag in Straßburg hält. „Klimaschutz und Verteidigung europäischer Werte müssen dort eine zentrale Rolle spielen, um uns Grüne zu überzeugen“, so Freund – und fügt warnend hinzu: „Es dürfte eng werden.“
Dabei hätte diese Zitterpartie nicht sein müssen. „Ein klares Bekenntnis zu einer Viererkoalition mit den Grünen hätte schnell für stabile Mehrheiten gesorgt“, gibt sich Freund kämpferisch. Doch die EVP und ihr bayerischer Chef Manfred Weber (CSU) wollten kein formelles Bündnis mit den Grünen.
Weber will sich alle Optionen offen halten – sogar mit den Rechten. Im Wahlkampf hatten von der Leyen und Weber um die rechtskonservativen Europäischen Konservativen und Reformer der italienischen Postfaschistin Giorgia Meloni geworben.
Doch je mehr Zugeständnisse die deutsche Kandidatin den italienischen Rechten macht, desto größer wird der Widerstand im linken und liberalen Lager. Sozialdemokraten und Liberale haben von der Leyen vor einem Pakt mit den Rechten gewarnt – im Zweifel könnten sie gegen sie stimmen.
Es ist ein wahltaktischer Eiertanz, den die Konservativen kurz vor der entscheidenden Abstimmung aufführen. Ihr Verhalten ist aber nicht nur demokratietheoretisch fraglich. Es ist auch ein großes Risiko. Denn die Wahl ist geheim – wer will, kann von der Leyen unerkannt eins auswischen. Rund 10 Prozent der Abgeordneten werden dies erfahrungsgemäß tun. Einen Fraktionszwang gibt es auch nicht, was die Unsicherheit vergrößert. Vor allem gibt es keine zweite Chance. Wenn von der Leyen im ersten Wahlgang scheitert, ist es vorbei. Dann ist sie endgültig durchgefallen und muss ihr Brüsseler Amt im Herbst abgeben. So sehen es die Regeln des Europaparlaments vor. Bei einer Wahlpleite müssten die Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel einen neuen Kandidaten präsentieren – doch wen?
Erinnerungen an 2019 werden wach. Damals hatten sich die EU-Chefs über das Parlament hinweggesetzt und den Wahlsieger Weber – er war seinerzeit selbst Spitzenkandidat – ausgebootet. An seiner Stelle wurde von der Leyen nominiert, obwohl sie sich nicht mal für Brüssel beworben hatte; nur das CDU-Parteibuch sprach für sie. Am Ende stimmte das Europaparlament zu – mit dem denkbar knappen Ergebnis von 9 Stimmen Mehrheit.
Wie wird das Parlament diesmal reagieren? Auch diese Frage spielt am Donnerstag in Straßburg eine Rolle. In letzter Minute ist noch ein weiterer Stressfaktor hinzugekommen: Das Urteil des EU-Gerichts zu den umstrittenen Corona-Impfstoffverträgen, die von der Leyen 2020 und 2021 unter größter Geheimhaltung geschlossen hatte. Grüne Europaabgeordnete haben auf Offenlegung der Verträge geklagt – und weitgehend recht bekommen. Die EU-Kommission habe nicht ausreichend Zugang zu Dokumenten gewährt, entschieden die Richter in Luxemburg.
Es ist ein herber Schlag für von der Leyen, die sich persönlich in die Impfstoff-Beschaffung eingeschaltet hatte. Er könnte unentschiedene Abgeordnete dazu bewegen, mit Nein zu stimmen – zumal die EU-Kommission wieder einmal mauert. Man habe das Urteil „zur Kenntnis genommen“ und fühle sich in der Sache bestätigt, erklärte von der Leyens Chefsprecher Eric Mamer. Dass seine Chefin etwas falsch gemacht haben könnte und dass es womöglich besser wäre, den Fehler zu korrigieren, kam ihm nicht in den Sinn.
Daraufhin erklärte Fabio De Masi, der auf hartem Oppositionskurs ist: „Frau von der Leyen bekommt einen Tag vor der Wahl vom Gerichtshof der EU bescheinigt, in der Pfizer-Affäre gegen EU-Recht verstoßen zu haben“, so der BSW-Politiker. „Frau von der Leyen sollte auf eine Kandidatur verzichten.“
Das wird sie gewiss nicht tun. Doch die Stimmung ist nun noch aufgeheizter. In Straßburg haben die vielleicht wichtigsten Stunden der Parlamentsgeschichte begonnen – von der Leyens Schicksal steht auf der Kippe. Und das der EU auch. Wenn es schiefgeht, stürzt sie erneut über eine Europawahl in die Krise – wie vor fünf Jahren. Die Wunden sind bis heute nicht verheilt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin