Waffenruhe in der Ostukraine: Zum Urlaub nach Donezk
In der Ostukraine schweigen seit September die Waffen. Der Alltag in Donezk ist ruhiger geworden. Friedlich ist es noch lange nicht. Ein Besuch.
Ist das nicht seltsam, sich ausgerechnet in der Hauptstadt der Separatisten zu erholen? Ganz und gar nicht! Inna schüttelt den Kopf. Sie wohne „im Frontgebiet“ und fast alle ihre Verwandten lebten auch dort – auf beiden Seiten der geschlängelten Linie, die seit dem Abkommen von Minsk im Februar 2015 die „Volksrepubliken“ Lugansk und Donezk von der Ukraine trennt. „Von dem Waffenstillstand habe ich nichts bemerkt“, klagt sie. „Ich habe auch im September nachts kein Auge zugetan. Ich habe im Flur gesessen und gehofft, dass es uns nicht trifft.“
Dicht an dicht stehen Koffer und Taschen im Gang des Busses. Eine Frau weint. Sie hat sich vor der Abfahrt lange von einem Mann in ukrainischer Uniform verabschiedet. Inna sitzt im Mittelgang, sie wollte keinen Fensterplatz. „Am Fenster kann man erkannt werden“, gibt sie zu bedenken. „Und wenn geschossen wird, kann ich mich nicht rechtzeitig auf den Boden werfen.“ Sie weiß, wovon sie spricht. „Sehen Sie sich mal die anderen Fahrgäste an, wie entspannt die hier sitzen.“ Fast wirkt sie etwas ungehalten. „Ich sage Ihnen, die Leute in Donezk haben doch überhaupt keine Ahnung vom Krieg! Die hören höchstens mal ein Bum-bum in der Ferne.“
Inna hat leise geredet, jetzt aber, wo sich der Bus dem Checkpoint nähert, wird sie nervös. Sie scheint die Einzige zu sein. Alle anderen blicken erwartungsvoll auf die andere Seite der Grenze. Zwei Wochen werde sie in Donezk bleiben, erzählt Inna, um endlich wieder durchzuschlafen. „In Donezk, so haben mir meine Verwandten berichtet, ist tatsächlich Waffenstillstand.“ Inna wartet, bis die Uniformierten der ukrainischen Seite ihren Passierschein geprüft haben. „Wann ist das nur zu Ende?“, stöhnt sie leise. „Wissen Sie es?“
Lenin auf Granit
Donezk war für ukrainische Verhältnisse immer eine aufreizende Stadt. Geländewagen und Limousinen, größer und schwerer als in Kiew, schossen über den Asphalt und kündeten vom Reichtum und Selbstbewusstsein der Millionenstadt. In Donezk hatten die Restaurants schon immer bis nach Mitternacht geöffnet. Mittelpunkt der Stadt ist der Leninplatz mit seinem bronzenen Lenin, der auf einem Granitpostament thront, Gesamthöhe mehr als 13 Meter.
Hier unter der mächtigen Skulptur haben die Donezker immer demonstriert, wenn es gegen Kiew ging – gegen die orangene Revolution, gegen den Euro-Maidan, für die Loslösung von Kiew. Dem revolutionären Ensemble gegenüber lädt in einem Keller die Bierkneipe „Tirol“ ein. Nach den Protesten war das Lokal Treffpunkt der Demonstranten und Organisatoren.
Dutzende Stufen führt die Treppe hinab. Im Halbdunkel kann man Sofas und Tische erkennen. Vor zwei Jahren war hier jeden Abend die Tanzfläche voll, jetzt ist die Kellnerin überrascht, dass plötzlich Gäste in der Tür stehen. Flink werden sie platziert. Bei Bier und Capuccino streiten sich bald vier Gestalten über Krieg und Frieden, drei Männer, eine Frau. Ein Lämpchen taucht die Gesellschaft in ein spärliches Licht. Es wirkt wie eine Verschwörung.
Waffenruhe: Seit 1. September gilt in der Ostukraine eine Waffenruhe. Sie ist Teil der Vereinbarung vom Minsk vom 12. Februar 2015 (Minsk II). Beide Seiten warfen einander immer wieder den Bruch der Vereinbarung vor. Im zweiten Anlauf scheint die Ruhe weitgehend zu halten. Nach eigenen Angaben setzen Regierungstruppen und Separatisten den Abzug von schweren Waffen fort.
Wahlen: Minsk II sieht auch Wahlen im Donbass nach ukrainischem Recht vor. Die Separatisten wollen hingegen 2016 Wahlen nach eigenem Recht abhalten. In allen anderen Teilen der Ukraine finden am Sonntag Kommunalwahlen statt.
Eine Kluft aus Blut
„Zwischen uns und der Ukraine eines Petro Poroschenko ist eine große Kluft. Und in dieser Kluft ist unser Blut“, hebt Raschid an, der sich als Politologe vorgestellt hat. „Ich trau ihnen nicht. Niemals werden wir wieder in dieser Ukraine leben können“, fährt er beschwörend fort. Alle dort seien Nationalisten, hier aber lebten die Menschen friedlich zusammen.
„Ich selbst bin Krimtatare. Viele meiner Freunde sind Aserbaidschaner oder Georgier. Wir alle sind gegen Faschismus, und deswegen leben hier Dutzende Nationalitäten friedlich zusammen“, bekräftigt Raschid, der sich seine Brötchen derzeit mit Schmuggel verdient. Er nimmt auch Kreditkarten mit auf seine Reisen „in die Ukraine“, um dort für die Besitzer Geld abzuheben. Der bärtige Mann, der wie ein Erstsemesterstudent wirkt, lächelt charmant. An Selbstzweifeln scheint er nicht zu leiden. Die Zukunft der Separatistengebiete liegt für ihn im Osten: „Langfristig können wir nur überleben, wenn wir uns Russland anschließen.“
Eine Kellnerin in Donezk
Poroschenko selbst sei für einen Waffenstillstand, sagt ein anderer am Tisch. „Doch kann er sich nicht durchsetzen gegen den rechten Sektor.“ Er selbst wolle nicht in einem Staat leben, in dem Oligarchen das Sagen hätten. Und dann noch die regelmäßigen Fackelzüge der Rechtsradikalen auf dem Maidan! Der Mann greift nach seinem Bier. Nein, in diesem Staat wolle er nicht leben.
„Wir müssen die Regierung in Kiew stürzen!“
„Wir wurden bombardiert aus Flugzeugen und Hubschraubern. Unsere Jungs haben ihr Leben für uns geopfert. Und jetzt sollen wir mit Kiew gemeinsame Sache machen? Nein!“, ruft jetzt Natalja. Sie hat schon die ersten Demonstrationen für eine Abspaltung von Kiew unter dem Lenin mit organisiert. „Kiew nutzt doch nur den Waffenstillstand, um die eigenen Truppen zusammenzuziehen“, unkt sie. „Wenn wir wirklich Frieden wollen, müssen wir die Regierung in Kiew stürzen!“ Nach dem energischen Appell eilen die vier die Stufen hinauf.
„Ich habe mir das alles mit angehört.“ Die Kellnerin, die so teilnahmslos gewirkt hat, fängt plötzlich an zu reden. „Nicht alle denken so.“ Aus ihren Augen spricht kein Hass, auch keine Angst, eher Bestürzung. „Auch ich habe bei den Luftangriffen voriges Jahr im August meine Fenster mit Plastikfolie zukleben müssen“, erzählt sie. „Schuld an dem Blutvergießen ist doch die russische Politik. Warum brauchen wir russische Soldaten hier?“ Sie sehe sie jeden Morgen im Hotel in ihrer Nachbarschaft. „Sie haben doch das Feuer der ukrainischen Seite erst auf uns gezogen. Vielleicht ist jetzt ja Ruhe hier, weil sie nicht gleichzeitig hier und in Syrien Krieg führen können.“
Nicht nur in den Restaurants läuft es mau, viele Geschäfte in Donezk sind geschlossen. Auch Banken und Geldautomaten arbeiten nicht. Immerhin, die Supermärkte sind geöffnet. Die Regale präsentieren Lebensmittel, Schreibwaren – und jede Menge Alkohol. Verkaufsschlager ist Krimsekt der Marke „Sowjetisch“. Als ob es einen verborgenen Grund zum Feiern gäbe, kaufen viele eine Flasche Sekt.
Im „Republikanischen Supermarkt“
„Wie lange leben Sie eigentlich schon hier?“, fragt die Verkäuferin im „Ersten Republikanischen Supermarkt“ in ihrer rot-blauen Bluse den Kunden, der sein Obst mit ukrainischer Hrywnia bezahlen will. Dann lacht sie. „Hat sich wohl noch nicht bis zu Ihnen herumgesprochen, dass man hier mit Rubel zahlt?“ Ein Besucher aus Kiew? Sie horcht auf. Der Laden ist leer. Es gibt mehr Verkäuferinnen als Kunden.
Innerhalb der letzten zwölf Monate hat sich die Einwohnerzahl der Stadt halbiert. Daher ist ein Kunde aus Kiew ein willkommener Zeitvertreib. Sie sagt, dass sie Ludmilla heißt, und beginnt zu erzählen. Anfang 2014 habe der Supermarkt noch ATB geheißen und war von Kiew aus geleitet worden. Doch dann entschieden sich die Machthaber der „Volksrepublik“, den Supermarkt zu enteignen und umzubenennen.
„Und wie denken die Leute in Kiew über uns? Hassen Sie uns? Stimmt es, dass man in Kiew nicht mehr russisch reden darf? Sind dort wirklich alle jungen Leute beim Rechten Sektor?“ Ludmilla saugt alles auf, was sie über Kiew hört. Sie sei schon lange nicht mehr dort gewesen, aber sie habe große Sehnsucht nach dieser Stadt. „Und jetzt sind wir Feinde“, sinniert sie. „Wirklich, ich hatte sehr gute Freunde dort.“
Eine künstliche Abwertung
Bald verrät sie, dass das ukrainische Geld keineswegs verboten sei. Allerdings müsse sie als Kassiererin mit einem Kurs von eins zu zwei rechnen, während man für eine Hrywnia in den Wechselstuben drei Rubel bekomme. Angesichts dieser künstlichen Abwertung sei das ukrainische Geld in Donezk und Lugansk fast überall durch den Rubel ersetzt worden.
Und nun klagt Ludmilla über die Preise. Alles sei fast zweimal so teuer wie in der Ukraine. „Wir hatten uns bei einer Loslösung von Kiew erhofft, dass wir Gehälter und Renten wie in Russland und Preise wie in der Ukraine haben werden. Nun ist es umgekehrt.“
Deswegen würden viele Familien selbst Kartoffeln und Kohl anbauen. Bei der Anreise sind die vielen Datschen am Stadtrand aufgefallen. Sie stehen frisch lackiert, als ob ihnen der Krieg nichts habe anhaben können. Auch die Ernte gedeiht. In dem Meer von Häuschen und Gärten wird klar, dass die Metropole auf Selbstversorgung umgestellt hat. Langweilig sei es in der Stadt auch geworden, seufzt Ludmilla. Kaum noch Bars, die geöffnet hätten. Und ab 23 Uhr ist Ausgangssperre.
Ein Blick auf die Hochhäuser am Abend lässt ahnen, wie leer die Stadt geworden ist. Nur in jeder dritten, vierten Wohnung brennt Licht. Und nach 23 Uhr liegt eine Stille über Donezk, als hätte es sich in ein Dorf verwandelt. Inna, die Frau, die sich im Bus bekreuzigt hat, findet endlich ihren Schlaf.
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