piwik no script img

Wählen für Menschen mit BehinderungSollen Egemen und Achmad weg?

Mein Sohn hat eine geistige Behinderung. Damit er wählen kann, müssten Formulierungen gefunden werden, die sich auf seine Lebenswirklichkeit beziehen.

In Deutschland haben auch Menschen mit geistigen Behinderungen ein Wahlrecht. Leichte Sprache nutzen trotzdem nicht alle Parteien Foto: dpa | Sebastian Gollnow

W enn ich meinen Sohn Willi frage: „Möchtest du Pizza oder Nudeln?“, dann kenne ich seine Antwort schon vorher. Er wird begeistert „Jaaaaa“ rufen und sich grinsend an den Tisch setzen. Auf die Frage: „Möchtest du Pizza oder Grünkohl?“, würde er mit einem empörten Kopfschütteln reagieren und vielleicht noch mit zusammengekniffenen Augen „Ii i i iiii“ hinzufügen. Entweder-oder-Fragen kann er nicht beantworten. Es müssen Ja-Nein-Fragen sein, um ihn mitentscheiden zu lassen. Und Willi möchte entscheiden!

Von politischen Wahlen waren die rund 80.000 Menschen in Deutschland mit sogenannten geistigen Behinderungen, die in allen Bereichen betreut werden, bis vor Kurzem ausgeschlossen. Nachdem mehrere Betroffene Beschwerde eingelegt hatten, stellte das Bundesverfassungsgericht 2019 allerdings fest, dass dieser pauschale Wahlausschluss verfassungswidrig war.

Wer Willi kennt und erfährt, dass auch er an den nächsten Wahlen teilnehmen darf, reagiert meist amüsiert. Da Willi nicht sprechen kann, wird ihm oft auch die Fähigkeit zu denken abgesprochen. Dass die Fähigkeit zu sprechen aber gar nichts mit der Fähigkeit zu denken zu tun haben muss, davon konnte man sich in so mancher Wahlkampfrede ausgiebig überzeugen.

Trotzdem gebe ich zu, dass es auch mir zuerst skurril vorkam, dass Willi bald wahlberechtigt sein wird. Als gesetzliche Betreuerin dürfte ich ihm dann zwar Hilfestellung geben, aber ausdrücklich nicht in seinem vermeintlichen Sinne für ihn entscheiden.

Wer Willi kennt und erfährt, dass er an den nächsten Wahlen teilnehmen darf, reagiert meist amüsiert

So steht es im Bundeswahlgesetz: „Ein Wahlberechtigter, der des Lesens unkundig oder wegen einer Behinderung an der Abgabe seiner Stimme gehindert ist, kann sich hierzu der Hilfe einer anderen Person bedienen. Die Hilfeleistung ist auf technische Hilfe bei der Kundgabe einer vom Wahlberechtigten selbst getroffenen und geäußerten Wahlentscheidung beschränkt.“

Und weiter: „Unzulässig ist eine Hilfeleistung, die unter missbräuchlicher Einflussnahme erfolgt, die selbstbestimmte Willensbildung oder Entscheidung des Wahlberechtigten ersetzt oder verändert.“

Bezogen auf Willis Nudel-Pizza-Angelegenheit könnten eine solche technische Hilfe Symbolbilder sein, auf die er zeigen kann (wobei ich in diesem Fall damit rechnen muss, dass er gleich mehrfach auf Nudeln und Pizza tippen und ein Grünkohlbild erbost vom Tisch fegen würde).

In einer Internetgruppe für Eltern von Menschen mit Behinderungen habe ich gefragt, wie es die anderen mit dem Wählen halten. Einige Familien hatten bei der Bundestagswahl 2021 die Erfahrung gemacht, dass sie trotz des geänderten Wahlrechts nicht mit ihren erwachsenen Kindern in die Wahlkabine gelassen wurden. Sie wählen nun per Briefwahl und bleiben so wieder unsichtbar für alle anderen. Viele Eltern scheinen ihren Kindern jedoch keine politische Meinung zuzutrauen und lassen sie nicht wählen. Ein Vater gab zu, dass er nur für sein Kind das Kreuz machen würde und wurde als Wahlbetrüger beschimpft.

Andere berichteten, dass sie gemeinsam mit ihren Betreuten die Wahlprogramme in Leichter Sprache nutzen, die alle großen Parteien außer BSW und AfD zur Bundestagswahl zur Verfügung gestellt haben. Viele fanden auch den Wahl-O-Mat sehr hilfreich.

Für geistig stark eingeschränkte Menschen müssten die Fragen und Informationen aber noch viel stärker vereinfacht werden. Auf vielen Wahlplakaten scheinen die Parteien genau das zu versuchen, aber meist kommen dabei nichtssagende Schlagworte wie „Freiheit“, „Sicherheit“ oder „Zusammenhalt“ heraus, mit denen wahrscheinlich nicht nur Willi nichts anfangen kann.

Für ihn müssten konkrete Formulierungen gefunden werden, die sich auf seine Lebenswirklichkeit beziehen. Mit der einfachen Frage „Sollen Egemen und Achmad weg?“ wäre der Grünkohl unter den Parteien zumindest schon mal aussortiert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Birte Müller
Freie Autorin
Geboren 1973 in Hamburg. Seit sie Kinder hat schreibt die Bilderbuchillustratorin hauptsächlich Einkaufszettel und Kolumnen. Unter dem Titel „Die schwer mehrfach normale Familie“ erzählt sie in der taz von Ihrem Alltag mit einem behinderten und einem unbehinderten Kind. Im Verlag Freies Geistesleben erschienen von ihr die Kolumnensammlungen „Willis Welt“ und „Wo ein Willi ist, ist auch ein Weg“. Ihr neuestes Buch ist das Kindersachbuch „Wie krank ist das denn?!“, toll auch für alle Erwachsenen, die gern mal von anderen ätzenden Krankheiten lesen möchten, als immer nur Corona. Birte Müller ist engagierte Netzpassivistin, darum erfahren Sie nur wenig mehr über sie auf ihrer veralteten Website: www.illuland.de
Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • Leider ist es nicht perfekt, was wir derzeit haben. Aber hier ist weniger das Problem, dass die Fragestellung zu schwer ist bzw. die deutsche Sprache zu schwer: Manche Menschen, und das ist leider so, sind Mental herausgefordert. Man kann es so leicht machen wie man es möchte, am Ende muss man Akzeptieren, dass die Entscheidung von Ihnen eher "durch andere Personen", gefällt werden.



    Ich will nicht sagen, das ihnen das Wahlrecht weggenommen werden soll. Aber es soll auch so sehr akzeptiert gemacht werden, wie die eigentliche Situation aussieht, das etwas wie: "Ein Vater gab zu, dass er nur für sein Kind das Kreuz machen würde und wurde als Wahlbetrüger beschimpft." Zumindest dann mit guten gewissen mit der Stimme seines Kindes, so wählen würde dass es dem Kind hilft, und er sich nicht wie ein Wahlbetrüger fühlen muss und dem Kind nicht hilft zu wählen und die Stimme verfällt.

  • Klingt für mich so als hätte dann die engste Bezugsperson eine Stimme mehr. Wie heute schon in vielen Pflegeheimen

  • Da ist das Problem inklusiver Teilhabe wohl weniger eines der Mehrfachbehinderung, als vielmehr ein systemisches Problem repräsentativer Demokratie. Mit den Wahlen können (und müssten) WählerInnen eine Reihe von Abwägungen zwischen unterschiedlichen Themen, verschiedenen Position, dem angebotenen Personal, Spekulationen über mögliche Koalitionen und (Un-)Wahrscheinlichkeiten der Umsetzbarkeit von Wahlversprechungen machen. Als Einzelstimme hat WählerIn ohnehin keinen Einfluss auf das, was am Ende als Politik herauskommt. Entscheidungen machen die Abgeordneten nach Art. 38 (1) GG alleine mit und unter sich aus. Der Sohn der Autorin ist also nicht allein und wird als Wahlberechtigter von nichts ausgeschlossen.

    Eine bessere Lösung für mehr Inklusion beim Poltik-machen wäre es, wenn, zusätzlich zum Wahlrecht, ein Beirat aus VertreterInnen mit unterschiedlichen Einschränkungen (und deren Angehörige und/oder ExpertInnen) Gesetze und Verordnungen anhand einer Skala von „Exklusion-Inklusion“ bewerten würde? Alles was unter bestimmte Grenzwerte fällt, würde (a) baldige oder (b) sofortige Nachbesserung mit dem Ziel inklusiver Teilhabe im Alltag erfordern.

  • „Sollen Egemen und Achmad weg?“



    Ich dachte bisher, dass die Vereinfachung oder Verschlagwortung politischer Inhalte im Wahlkampf eher ein Problem ist. Ein klares Ja zu dieser Frage käme nicht einmal von allen AfD-Wählern. Und das Grünkohl = AFD bedeutet, ist das nicht schon eine Beeinflussung des Wahlhelfers? Was ist mit den Parteien CDU, SPD, Grüne, BSW,FDP und andere, die ja sagen unter Umständen sollen E. und A. weg? Ich jedensfalls könnte nict sagen, welche Wahlempfehlung bei Ja oder Nein auf diese Frage zwingend wäre.

  • "... Sie wählen nun per Briefwahl und bleiben so wieder unsichtbar für alle anderen. ..." Das mache ich auch seit Jahren. Es geht hier um eine geheime Wahl.



    Ansonsten ist das Problem, dass die meisten Menschen sich bei ihrer Wahl nicht inhaltlich mit den Wahlprogrammen der gewählten Partei auseinandergesetzt haben und höchsten aufgrund von Slogans und Reden und daraufhin vermuteten Übereinstimmungen mit eigenen Überzeugungen entscheiden.



    Da könnte ein Art erweiterter Wahl-O-Mat und Real-O-Mat wirklich helfen. Da müssten dann aber alle Punkte der Wahlprogramme aller Parteien einfließen und auch das bekannte Abstimmungsverhalten und eingebrachte Gesetzesentwürfe. Es wäre eine Hilfe für alle Wähler.

    • @Axel Schäfer:

      "Ansonsten ist das Problem, dass die meisten Menschen sich bei ihrer Wahl nicht inhaltlich mit den Wahlprogrammen der gewählten Partei auseinandergesetzt haben und höchsten aufgrund...". Das ist erstmal nur eine Unterstellung oder neutral: Vermutung. Zudem spielen für viele auch langfristige und/oder grundsätzliche Überzeugungen eine nicht unbedeutende Rolle bei einer Wahlentscheidung.



      Der Wahl-oma-t ist insofern keine wirkliche Entscheidungshilfe, weil der Fragenkatalog nur von 26 Neu/Jungwählern und ebensoviele Wahlforschern erstellt wurde und damit viele relevante Wählergruppierungen sich und ihre Fragestellungen gar nicht einbringen konnten, die Antworten also in einem mehr oder weniger starken Ausmaße bereits ausgerichtet waren.

      • @Vigoleis:

        Ich kenne niemanden, der den Wahlomat noch ernst nimmt. Die Fragen sind ungefähr so differenziert wie einst beim Psychotest in der BRAVO.