Vorwürfe gegen Vorsitzenden: Nicht ganz koscher
Der „Spiegel“ berichtet, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Pinneberg, Wolfgang Seibert, sei gar kein Jude, seine Großmutter sei nie in Auschwitz gewesen.
Seibert ist seit 2003 Vorsitzender der Jüdische Gemeinde in Pinneberg, die erst 2002 gegründet wurde. Er vertritt ein liberales Judentum und ist bekannt für sein linkes politisches Engagement. Unter anderem als Stimme gegen rechten wie linken Antisemitismus ist er regelmäßig Gesprächspartner der Medien gewesen – auch der taz. Bundesweit Schlagzeilen machte Seibert, nachdem er mit seiner Gemeinde im Sommer 2014 einem muslimischen Flüchtling „Kirchenasyl“ gewährte.
Der Spiegel schreibt nun, Seibert sei am 16. August 1947 als Sohn evangelischer Eltern in Frankfurt geboren und drei Tage später getauft worden. Seiberts Behauptung, seine Großmutter sei Auschwitz-Überlebende, stimme nicht.
In einer Hausmitteilung des Magazins heißt es, das Gerücht, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde sei gar kein Jude, schien anfangs zu skurril, um wahr zu sein. Für ihre Recherchen, so erklären die Autoren Moritz Gerlach und Martin Doerry, hätten sie „mehr als 20 Archive“ besucht. Doerry war bis 2014 stellvertretender Chefredakteur des Spiegel gewesen. 2002 veröffentlichte er ein Buch über Briefwechsel seiner jüdischen Großmutter Lilli Jahn.
Generalabrechnung mit Seibert
Gerlach und Doerrys Artikel liest sich nun wie eine Generalabrechnung mit Seibert. Dieser sei bereits in den 1970er-Jahren als Betrüger aufgefallen und habe dafür Anfang der 1980er auch im Gefängnis gesessen. Er habe sich danach zunächst als „Zigeuner“ ausgegeben, so erklären die Autoren, seine Angaben zu seiner Ausbildung hätten variiert.
Von „raffinierten“ Legenden berichtet der Artikel und davon, dass er Zugriff auf den Gemeinde-Etat habe: „Seibert verfügt also über viel Geld.“ Auch Kaffeekränzchen werden erwähnt, die seine Frau in der Gemeinde veranstalte, um Kundschaft für ihren Pflegedienst zu akquirieren, so der Vorwurf. „So ganz koscher ist diese Verbindung nicht“, wird dazu ein Ex-Mitglied der Pinneberger Gemeinde zitiert.
Das Jüdischsein Seiberts, auch das lässt sich aus dem Artikel entnehmen, war bereits Thema – zu einer abschließende Klärung der jüdischen Identität Seiberts durch das Beit Din, das Rabbinergericht, sei es aber nie gekommen. Das Rabbinergericht hatte abgelehnt, die „Jüdischkeit“ Seiberts anzuzweifeln. Die Autoren erklären selbst, dass sich für Nicht-Juden weitere Nachfragen eigentlich verbieten, weil die Entscheidung darüber, wer Jude ist oder nicht, allein bei den Vertretern des Judentums liege. In Seiberts Fall sei es aber etwas anderes gewesen, weil ein nicht-jüdischer Deutscher sich eine jüdische Identität erschwindelt und sich zu einem Nachfahren von Holocaust-Überlebenden gemacht habe.
Denn laut Spiegel hatte Seibert nach einer Konfrontation zugegeben: „Wenn ich das jetzt so sehe, dann fange ich an zu zweifeln, ob ich jüdisch geboren worden bin. Aber ich finde das nicht so wesentlich.“ Es sei für ihn immer entscheidend gewesen, dass er sich als Jude „gefühlt“ habe.
Seibert war am Sonntag nicht zu erreichen. Dem Evangelischem Pressedienst hatte er am Samstag erklärt, er wolle sich im Laufe der Woche öffentlich äußern, nachdem er sich mit seinem Anwalt beraten habe. Die Behauptung in dem Artikel, er werde sein Amt als Gemeindevorsitzender aufgeben, sei falsch.
Wer jüdisch ist, entscheidet die Gemeinde
Beim Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein, zu dem auch die Pinneberger Gemeinde gehört, wollte man zunächst keine offizielle Stellungnahme abgeben. Von einem Mitglied der Jüdischen Gemeinde hieß es aber, man werde so schnell nicht auf Distanz zu Seibert gehen: „Wer jüdisch ist, entscheidet die Jüdische Gemeinde und nicht der Spiegel.“ Seibert habe sich jahrelang ehrenamtlich engagiert. Der Hintergrund dieses Berichts sei ein Streit mit dem ehemaligen Landesrabbiner Walter Rothschild.
Wolfgang Seibert, Jüdische Gemeinde Pinneberg, laut Spiegel
Rothschild wird in dem Artikel als einer derjenigen angeführt, die an Seiberts jüdischer Identität zweifelten. Er war von 2003 bis 2015 Landesrabbiner der jüdischen Reformgemeinden in Schleswig-Holstein. 2015 wurde er vom Landesvorstand entlassen – es folgte ein Rechtsstreit. Auch Seibert hatte sich anscheinend von Rothschild abgewandt.
Hört man sich bei Bekannten Seiberts um, so herrscht Bestürzen über den Artikel und Erschütterung über die Vorwürfe. Andererseits kritisieren sie aber auch die Art, wie die Autoren die Vorwürfe vortragen – etwa, dass sich an einer Stelle die Aufzählung zweier ungeklärter Angriffe auf die Synagoge so liest, als habe sich Seibert damit einen Vorteil verschafft, indem der zweite Anschlag ihm einen Besuch des Kieler Innenministers „beschert“ habe.
Einer, der Seibert gut kennt, ist Werner Pomrehn, Redakteur beim linken Hamburger Radio-Sender FSK. Er erklärte der taz: „Ich beurteile Wolfgang Seibert nach dem, wie ich ihn in den vergangenen zehn Jahren kennengelernt habe: als ausgesprochen solidarischen Menschen, politisch einem emanzipatorischen Gedanken verpflichtet, gebildet und bewandert.“
Kennengelernt habe er ihn, als im Mai 2008 Neonazis in Hamburg aufmarschierten und Seibert mit einer kleinen Gruppe mit Israel-Fahnen erst Ärger mit Neonazis und dann mit Linken gehabt habe, so Pomrehn. Für sein Engagement gegen Neonazismus habe Seibert unter anderem mit Todesdrohungen umgehen müssen.
Warten auf Replik
Der Journalist und Historiker Johannes Spohr zeigte sich verwundert darüber, dass man erst jetzt und in einer solchen Form von den „offenbar seit langem gehegten Anschuldigungen“ gegenüber Seibert erfahre. Spohr hat 2017 ein Buch unter anderem über Seibert veröffentlicht, in dem es um biografische Erfahrungen mit linkem Antisemitismus geht. In dem Spiegel-Artikel kritisieren die Autoren, dass Seibert darin „auf vielen Seiten seine angeblich jüdische Familiengeschichte ausbreiten durfte“.
Spohr erklärte dazu: „Zu den Anschuldigungen zu Falschaussagen bezüglich seiner Biografie ist zunächst die von Wolfgang Seibert angekündigte Replik auf den Artikel abzuwarten.“ Eine „völlig inakzeptable Behauptung“ sei allerdings die Aussage, dass, wer sich in Deutschland in eine jüdische Identität flüchte, damit rechnen dürfe, unangreifbar zu sein, wie es vom Spiegel behauptet werde. Seibert sei immer wieder zum Ziel antisemitischer Agitation geworden.
„Es ist in der Tat interessant, den Motivationen von Menschen nachzugehen, die sich fälschlicherweise als jüdisch beziehungsweise Nachfahre von Holocaust-Opfern ausgeben“, erklärte Spohr. „Dies kann unter anderem in dem Wunsch nach Entlastung und Schuldabwehr nicht-jüdischer Deutscher begründet liegen. Das wird jedoch in dem Spiegel-Artikel nicht betrachtet.“
Womöglich kann zu einer Aufklärung darüber nur Seibert selbst beitragen.
Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hieß es, das Beit Din, das Rabbinergericht, habe das Jüdischsein Seiberts überprüft. Laut Recherchen des Spiegel hatte das Rabbinergericht entschieden, die „Jüdischkeit“ Seiberts nicht anzuzweifeln, zu einer abschließenden Klärung seiner jüdischen Identität sei es aber nie gekommen. Bei der Großmutter, über die Seibert behauptet, sie sei Auschwitz-Überlebende, handelt es sich um Elise Häger, nicht um Anna Katharina Schmidt.
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