piwik no script img

Vorteile für GewerkschaftsmitgliederExtra Urlaub

Erstmals enthält ein Flächentarifvertag Regelungen, die nur für Mitglieder der IG BCE gelten​. Solche Vorteile gab es zuvor nur in Haustarifverträgen.

Vorteilsregelungen durchgesetzt: Gewerkschaftsmitglieder dürfen sich freuen Foto: Florian Boillot

Hannover taz | Erstmals in Deutschland gibt es für eine ganze Branche Regelungen, die nur für Gewerkschaftsmitglieder gelten. Konkret: Die Beschäftigten in der Chemie- und Pharmaindustrie, die Mitglieder der Industriegewerkschaft Bauen, Chemie, Energie (IG BCE) sind, bekommen künftig pro Jahr einen zusätzlichen Urlaubstag sowie einen weiteren freien Tag, wenn sie 10, 25, 40 und 50 Jahre in der Gewerkschaft sind. Darauf hat sich die IG BCE gerade in einem neuen Flächentarifvertrag mit dem Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) geeinigt.

Vorteilsregelungen für Gewerkschaftsmitglieder galten bisher nur in Haustarifverträgen und waren eher die Ausnahme. So hatte die Gewerkschaft Verdi für die vergangenen beiden Jahre für ihre Mitglieder unter den 6.400 Beschäftigten des größten deutschen Betreibers von Dialyse-Zentren KfH (Kuratorium für Heimdialyse) Bonuszahlungen in Höhe von 875 Euro ausgehandelt.

Bei der Deutschen Angestellten-Akademie verdienen Verdi-Mitglieder seit 2022 monatlich 50 Euro zusätzlich. Mit anderen Arbeitgebern hat Verdi Vorteilsregelungen für ihre Mitglieder unter anderem in Form von Warengutscheinen, Jobtickets, einem schnelleren Aufstieg innerhalb der Entgeltgruppen oder Zuschlägen zur betrieblichen Altersvorsorge vereinbart.

Der Umfang darf laut Bundesarbeitsgericht (BAG) faktisch nicht zu einem Zwang zum Eintritt in die Gewerkschaft führen. Eine zwischen der IG Metall und Nokia Siemens Networks ausgehandelte Abfindungszahlung in Höhe von 10.000 Euro nur für Mitglieder hat das BAG akzeptiert. Das Landesarbeitsgericht Hamm hält extra Leistungen in Höhe von zwei Jahresmitgliedsbeiträgen zur Gewerkschaft für möglich. Der Beitrag liegt in der Regel bei einem Prozent des Jahresgehalts.

Verzicht auf Weihnachtsgeld

Mit Vorteilsregelungen haben sich Arbeitgeber vereinzelt auch die Zustimmung zu Leistungseinschränkungen erkauft. Die kriselnde Real-Warenhauskette handelte mit Verdi 2017 aus, dass die Beschäftigten auf 60 Prozent ihres Weihnachts- und Urlaubsgeldes verzichten – im Gegenzug gab es für Verdi-Mitglieder ein Prozent mehr beim Jahresbruttogehalt.

In den Betrieben werden Vorteilsregelungen unterschiedlich beurteilt. Während die einen von einem Zwei-Klassen-Lohnsystem sprechen, sind sie für Gewerkschaftsmitglieder nur recht und billig – finanzieren sie mit ihren Beiträgen doch eine Interessensvertretung, von deren Verhandlungen auch Nicht-Mitglieder profitieren.

2023 wurde ein kompletter Tarifvertrag nur für Gewerkschaftsmitglieder vereinbart, zwischen Verdi und den Waldkliniken Eisenberg in Thüringen. Er sieht die Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, neun Prozent mehr Lohn, ein Tag mehr Urlaub sowie jährlich 3.000 Euro Sonderzahlung ab 2025 vor.

Antrieb für Gewerkschaften

„Rein rechtlich sind Tarifverträge immer nur für Gewerkschaftsmitglieder gültig, Arbeitgeber wenden die Regelungen auch auf alle anderen Beschäftigten an. In diesem Fall ist das anders – das ist ganz in unserem Sinne und bundesweit von wegweisender Bedeutung“, sagt Norbert Reuter, Leiter der tarifpolitischen Grundsatzabteilung bei Verdi. Der Effekt sei eindeutig: Vor dem Abschluss habe es in der orthopädischen Fachklinik kaum Gewerkschaftsmitglieder gegeben, inzwischen seien mehr als die Hälfte der 740 Beschäftigten bei Verdi eingetreten.

Auf eine ähnliche Entwicklung hofft die IG BCE durch die neuen Vorteilsregelungen. Bislang zählen 35 Prozent der rund 585.000 Beschäftigten aus den Chemie- und Pharmaunternehmen, die dem BAVC angehören, zu ihren Mitgliedern. Die Chemie-Arbeitgeber wiederum sind durchaus an einer starken IG BCE interessiert, deren Forderungen im Vergleich mit anderen Gewerkschaften als maßvoll gelten. Im neuen Tarifvertrag wurden Lohnerhöhungen von insgesamt 6,85 Prozent für eine Laufzeit von 20 Monaten vereinbart.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

8 Kommentare

 / 
  • Was wird jetzt eigentlich aus der alten Gewerkschaftskernforderung "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit"? Gilt das ab jetzt nicht mehr? Überdies ist das Schwert zweischneidig: Die Gewerkschaftsmitglieder kommen die Firmen teurer als ihre nicht organisierten Kollegen. Es würde mich wundern, wenn das bei Kündigungen keine Rolle spielen würde.

  • Den Eintrittszwang hast du in großen IGM Unternehmen ohnehin schon wenn man Karriere machen will, als nicht IGM Mitglied wird man aussortiert.

    • @Wombat:

      Ja und ? Ich wohne auch als Mitglied in einer Genossenschaft und habe dadurch eine viel günstigere Miete als die Nachbarn auf der anderen Straße. Ihrer Meinung nach sollten die Mieten also gleich sein? Obwohl null Engagement dafür selber etwas zu tun ?

      • @Mr Ambivalent:

        Es ist absolut okay wenn sich Gewerkschafter Privilegien erstreiten, schließlich zahlt man Mitgliedsbeiträge. Was nicht okay ist das in vielen IGM Unternehmen Nicht-Gewerkschafter bei internen Bewerbungen aussortiert werden, weil man denkt dass eine Zusammenarbeit mit dem Gewerkschafts BR so besser ist.

        Für mich ist selbst bei negativen Folgen eine Gewerkschaftsmitgliedschaft aufgrund der politischen Forderungen nicht denkbar.

  • Natürlich ist das im Sinn von Verdi, darauf hätte Herr Reuter nicht hinweisen müssen. Ich würde sogar sagen, daß das ganze Konstrukt ausschließlich der Akquise neuer Mitglieder dient. Mich wundert nur, daß sich die Arbeitgeberseite darauf einlässt.

  • Das "B" in "IG BCE" steht nicht für "Bauen", sondern für "Bergbau".

  • Korrekt!



    Erstens ist es recht und billig, dass Gewerkschaftsmitglieder für die Finanzierung der Gewerkschaften und die ehrenamtlichen Tätigkeiten in dem Bereich Anerkennung erhalten. Freigestellte BetriebsrätInnen sind ja nur die Spitze der Bewegung.



    Zweites ist der Anreiz für mehr hMitglieder in Gewerkschaften sinnvoll.



    Wer davon spricht, dass die Sozialpartnerschaft wichtig ist, muss auch an deren Existenz interessiert sein.



    Neben starken Gewerkschaften sind das entsprechend viele Betriebe in den Arbeitgebervertretungen mit Tarifbindung.

  • Glückwunsch an die Kolleginnen und Kollegen der IG BCE. Sie haben alles richtig gemacht! Ich hoffe dieser Abschluss macht Schule.