Vor dem neuen Coronalockdown: Wissenschaft im Abseits
Wenn die Politik unangenehme Entscheidungen aufschiebt, vergrößert das die Probleme. Das zeigt sich bei den Coronamaßnahmen – aber nicht nur dort.
D urch die erste Phase der Coronapandemie ist Deutschland relativ gut gekommen. Neben etwas Glück und Disziplin war dabei vor allem eins entscheidend: Die Politik hat im Wesentlichen der Wissenschaft vertraut. Anders als etwa die populistischen Regierungschefs in den USA oder Großbritannien wurde vieles von dem aufgegriffen, was Virologen und Epidemiologen vorgeschlagen haben – mit dem Ergebnis, dass die erste Welle in Deutschland vergleichsweise niedrig blieb und schnell wieder abebbte.
Mittlerweile hat sich die Situation leider komplett verändert. Die zweite Welle ist nicht wirklich gebrochen worden, nach einem kurzen Plateau steigen die Infektionszahlen vielmehr wieder dramatisch an. Und die Zahl der täglichen Coronatodesfälle liegt in Deutschland mit über 400 pro Tag bezogen auf die Bevölkerungszahl nicht mehr weit von der der USA entfernt, auf deren Versagen in der Coronakrise wir lange mit Verachtung (für die Verantwortlichen) oder Mitleid (für die Betroffenen) geschaut haben.
Der Grund für die Katastrophe, die sich derzeit auf den Intensivstationen und in den Altenheimen abspielt, ist simpel: Anders als im Frühjahr werden die Aussagen der Wissenschaft von wichtigen politischen Akteuren derzeit nicht mehr ernst genommen – oder sogar offen angegriffen. Unter dem Eindruck, dass es im Frühjahr besser gelaufen ist als erwartet, wurde zuletzt lieber jenen geglaubt, die behaupteten, so schlimm werde es schon nicht kommen.
Manche Fehler passierten dabei mit guter Intention – etwa in den Schulen auch bei stark steigenden Fallzahlen noch am Präsenzunterricht mit kompletten Klassen festzuhalten, um keine Kinder bildungsmäßig abzuhängen. Andere waren die Folge von massivem Lobbydruck: Shoppingmalls durften im Gegensatz zu Museen offenbleiben, Heimarbeit wurde nicht verpflichtend, wo immer sie möglich ist, und Flugzeuge, Busse und Bahnen durften weiter beliebig viele Passagiere dicht an dicht transportieren – trotz klarer Warnungen aller großen Wissenschaftsvereinigungen, dass es auf diese Weise nicht gelingen würde, die Zahlen im notwendigen Maße zu drücken.
Und selbst jetzt, wo die Infektions- und Todeszahlen neue Rekorde erreichen, trauen sich viele Bundesländer nur zaghaft an neue Beschränkungen heran, um das Weihnachtsfest – und das Weihnachtsgeschäft – nicht zu gefährden. Dabei ist völlig klar, dass ein Lockdown umso härter und länger ausfallen muss, je länger man wartet, weil dann das Ausgangsniveau der Fallzahlen eben deutlich höher ist.
Aus diesem Grund ist es doppelt unsinnig, die unangenehmen Entscheidungen aufzuschieben. Das führt nicht nur zu mehr schwer Erkrankten und Toten, sondern ist am Ende auch für die Wirtschaft der schlechtere Weg. Alle Studien zeigen, dass harte, kurze Beschränkungen am Ende weniger Schäden anrichten als zu weiche, die lange anhalten und trotzdem nicht reichen.
Der härtere Lockdown auch für Teile der Schulen und Geschäfte, der wohl in der nächsten Woche kommen wird, hätte nicht nur besser gewirkt, wenn er schon drei Wochen eher beschlossen worden wäre, sondern er hätte dann auch deutlich kürzer ausfallen können – das zeigt die Entwicklung in Ländern wie Belgien oder Frankreich, die diesmal früher und schärfer reagiert haben als Deutschland.
Diese Kurzsichtigkeit, mit der wissenschaftliche Erkenntnisse von der Politik ignoriert werden, gibt es auch in anderen Bereichen, etwa beim Klimaschutz. Auch dort gilt: Wenn notwendige Entscheidungen aufgeschoben werden, erhöht das am Ende sowohl das menschliche Leid als auch die finanziellen Kosten. Hier wie dort muss die Politik endlich den Mut finden, wissenschaftliche Fakten ernst zu nehmen, statt sie aus Angst vor Lobbyisten, Opportunisten und Wissenschaftsleugnern so lange zu ignorieren, bis die Schäden unübersehbar sind.
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