Vor dem Haftantritt: Verurteilter KZ-Wachmann tot
Vor zehn Monaten war ein ehemaliger Wachmann des KZ Sachsenhausen verurteilt worden. Nun ist er ohne Haftantritt mit 102 Jahren gestorben.
Der frühere Chefermittler der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg, Thomas Walther, betonte, der Tod von S. komme nicht überraschend. Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen seien „den Überlebenden und den Familien der Mordopfer von Sachsenhausen auch ohne Bestätigung des Bundesgerichtshofs von überragender Bedeutung“, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Donnerstag. Der Jurist war als Nebenklageanwalt an dem Prozess beteiligt.
Walther sagte, zehn Monate nach dem Urteil werde nun erneut deutlich, „dass auf der Suche nach Gerechtigkeit Jahrzehnte der Ignoranz in der deutschen Justiz vergingen“. Erst ab 2008 habe dort „ein Umdenken zur pflichtgemäßen Anwendung des Rechts“ geführt.
Das Landgericht Neuruppin hatte Josef S. wegen Beihilfe zum Mord und zum versuchten Mord in einer Vielzahl von Fällen zu fünf Jahren Haft verurteilt. Mit seinem Dienst im KZ Sachsenhausen habe S. „Terror und Massenmord gefördert“, hieß es bei der Urteilsverkündung. Dies sei ihm auch bewusst gewesen. Mit seiner Wachtätigkeit habe er die NS-Verbrechen in dem Konzentrationslager bereitwillig unterstützt. (Az.: 11 Ks 4/21)
Ermittlungen gegen Aufseherin des KZ Ravensbrück
In dem fast 100 Seiten langen Urteil heißt es weiter, S. habe seinen Dienst im KZ „im Bewusstsein des dadurch geförderten Massenmordes dennoch gewissenhaft und zuverlässig“ ausgeübt. Er sei „willfähriger und effizienter Angehöriger des Wachsturmbanns“ gewesen. Das Gericht habe keinen Zweifel, dass er gewusst habe, dass die Tötungen in Sachsenhausen „Unrecht waren, für das es keinerlei Rechtfertigung gab“.
In den vergangenen Jahren waren bereits in anderen Fällen Prozesse gegen früheres KZ-Personal ohne rechtskräftiges Urteil zu Ende gegangen, weil die Verurteilten vor der abschließenden Gerichtsentscheidung gestorben sind. Dazu gehört der Fall John Demjanjuk. Der frühere SS-Wachmann des Vernichtungslagers Sobibor starb 2012 mit 91 Jahren, bevor seine fünfjährige Haftstrafe rechtskräftig wurde. Der ehemalige KZ-Wachmann Reinhold Hanning, der in Auschwitz im Dienst der SS stand, starb 2017 mit 95 Jahren, bevor seine Verurteilung zu fünf Jahren Haft rechtskräftig wurde.
In Brandenburg ermittelt die Staatsanwaltschaft Neuruppin derzeit noch in einem Fall wegen NS-Verbrechen. Das Verfahren richte sich gegen eine ehemalige Aufseherin des KZ Ravensbrück, sagte Oberstaatsanwalt Cyrill Klement dem epd am Donnerstag: „Die Ermittlungen gegen die zwischenzeitlich 100-jährige Beschuldigte wegen Beihilfe zum Mord dauern an.“ Die Staatsanwaltschaft Neuruppin ist für Fälle mit Bezug zu den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Ravensbrück zuständig. Klement war auch an dem Verfahren gegen Josef S. beteiligt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung