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Von der Selbstverantwortung des FußvolksDer Gehweg als Bür­ge­r*in­nen­steig

Zu Fuß gehen war früher, also ganz früher, kein Vergnügen, sondern demütigend. Das soll heute anders sein!? Vom täglichen Kampf der Fußgänger*innen.

Mit den Füßen abgestimmt – mit anderen Worten: Fuß­gän­ge­r*in­nen sind auch Wäh­le­r*in­nen Foto: dpa/Sina Schuldt

V on dieser Geschichte des Gehwegs, die ich auf Wikipedia gefunden habe, wünsche ich mir sehr, dass sie stimmt: Der Gehweg sei eine Errungenschaft der französischen Re­vo­lu­tio­nä­r*in­nen, die als Bür­ge­r*in­nen ebenfalls bequem und sauberen Fußes den öffentlichen Straßenraum nutzen wollten. Das war zuvor dem Adel vorbehalten, der seine Kutschen vor die Treppe lenken lassen konnte, die erhaben über den Schmutz der Straße direkt in die Beletagen der Häuser führte. Fuß­gän­ge­r*in­nen dagegen mussten sich die Straße mit Kutschen und Pferden teilen und durch den Dreck waten, den diese dort zuverlässig herstellten.

Zu Fuß gehen war kein Vergnügen, sondern eine Demütigung. Auf dem Gehweg konnten dann auch Bür­ge­r*in­nen selbstbewusst (und sauber) im öffentlichen Raum auftreten – weshalb er auch „Bürgersteig“ heißt.

wochentaz

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In der Straßenverkehrsordnung (StVO) taucht dieser Begriff allerdings nicht auf. Dort heißt der Bürgersteig Gehweg und darf „in der Regel“ nur von Fuß­gän­ge­r*in­nen genutzt werden. Ausnahmen sind etwa Rollstühle und radfahrende Kinder unter 9 Jahren, allein oder mit ihren Eltern, die dann ebenfalls Rad fahren dürfen. (Das nur so zur Info für die, die das nicht wussten.)

Wussten Sie aber, dass fast alle Verstöße gegen die StVO, die auf Gehwegen begangen und mit Bußgeld belegt werden können, sich auf Verkehr MIT Reifen beziehen? Auf das Parken von Autos oder Mopeds auf Gehwegen etwa oder das Radfahren ohne legitimierendes Kind. Was nichts mit Reifen zu tun hat, bezieht sich auf zu weit in den Gehweg ragende Cafétische oder Werbeschilder. Fuß­gän­ge­r*in­nen aber drohen erst dann Strafen, wenn sie den Gehweg verlassen: bei Rot eine Ampel überqueren etwa. Niemand schreibt ihnen vor, wie schnell oder langsam, zu wievielt nebeneinander, auf welcher Seite des Gehwegs man gehen oder andere überholen darf. Wilder Westen auf dem Gehweg also, das Recht der Stärkeren?

Man einigt sich situationsangemessen

Natürlich gibt es die Remplerinnen, die Hetzer, die Schleichenden und Stehenbleiber, die Viererketten mit und ohne Kinderwagen. Aber zu gewaltsamen Auseinandersetzungen wie unter Auto- und Rad­fah­re­r*in­nen kommt es unter Fuß­gän­ge­r*in­nen doch eher selten. Man einigt sich situationsangemessen, spontan und schnell, macht brummelnd Platz oder lächelnd: friedlich, zivilisiert vom Lateinischen civis, Deutsch: Bürger*in. Als zu Fuß gehende Bür­ge­r*in­nen haben alle die gleichen Rechte auf dem – genau – Bürgersteig.

Passender finde ich deshalb den Begriff von Anarchie als gesellschaftlicher Zustand, in dem minimale Gewaltausübung durch Institutionen und maximale Selbstverantwortung des Einzelnen vorherrscht. Und er klingt ja auch fast ein bisschen an in der 1. Grundregel der StVO, die besagt, dass die Teilnahme am Straßenverkehr „ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht“ erfordere.

Ich finde: Wir Fuß­gän­ge­r*in­nen machen das ziemlich gut mit der Selbstverantwortung und der Rücksicht. Wir könnten sogar als Vorbilder für die anderen Verkehrsarten dienen – würde ich denken, wäre es nicht so, dass ja auch Auto- und Rad­fah­re­r*in­nen immer mal wieder zu Fuß gehen (während längst nicht alle Fuß­gän­ge­r*in­nen auch Fahrrad oder Auto fahren).

Wieso klappt das mit Verantwortung und Rücksicht offenbar so viel schlechter, wenn jemand Räder unterm Hintern hat? Wo das Rad doch eigentlich so einen großen Fortschritt für die Zivilisation gebracht hat? Am Rad kann’s nicht liegen, oder jedenfalls nur teilweise: dort, wo es für seine Nut­ze­r*in­nen nur noch Geschwindigkeit bedeutet. Andere werden dann zu bloßen Hindernissen, zu Objekten.

Auf dem Bürgersteig dagegen sieht man die anderen. Sie sind menschlich, vielfältig, unberechenbar, sind „wie ich“: haben es eilig oder schlendern, gehen an Krücken oder zu viert nebeneinander her, oder reißen sich von Papas Hand los, um quer über den Gehweg zu rennen. Und lächeln einem dabei im besten Fall ins Gesicht.

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Kolumnistin taz.stadtland
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7 Kommentare

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  • Ich empfehle jedem, der großspurig über "Aufenthaltsqualität" oder Fußgängerprivilegien doziert - oder wie vom sensiblen Miteinander, einfach mal eine Runde am Rosenthaler Platz zu drehen. Und dabei z.B. dem Stück im Nordwesten, am U-Bahn-Eingang, besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Der Eingang selbst nimmt für sich natürlich schon viel Platz ein, wie auch der Aufzugblock dahinter. Aber dann: hält sich ein Dönerrestaurant gleich daneben großzügig öffentliches Straßenland als Schankvorgarten frei (und demarkiert es mit lieblosen Pflanzenkübeln). Fußgänger müssen sich da förmlich durchzwängen, zumal da noch eine historische Telefonsäule im Weg steht. Auf der anderen Seite des selben U-Bahn-Eingangs wurde wiederum ein einsamer Fahrradbügel mitten in die Laufrichtung einbetoniert (der da dann außerdem Radleichen anzieht). Das sind hier keineswegs die einzigen Beispiele aus dem planerischen Irrenhaus. Der Rosenthaler Platz ist einer der lebhafteren Verkehrsknoten der Stadt. Und liegt in einem grün regierten Bezirk.

  • Lobby der Radfahrer? Im Ernst????

    • 6G
      652797 (Profil gelöscht)
      @Perkele:

      Jeder hat eine Lobby, mal stärker mal schwächer

  • Menschen, die zu Fuß gehen (und daneben auch Öffentliche nutzen) werden von der Verkehrspolitik weitgehend ignoriert! Die Lobby der Auto- und Radfahrenden ist übermächtig! Dabei sei jenen, die eine Stadt, eine Region und deren Bewohner wirklich wahrnehmen wollen, im Sinn von: Sehen, was real IST, diese Art der Fortbewegung mal empfohlen - vielleicht auch als Augenöffner für Politik!

    • @Toni Zweig:

      Hierzu eine Ergänzung: versuchen Sie mal, als Fußgänger über die Linienstraße zu kommen, wenn ein Pulk von Radfahrer_innen daherkommt. Autofahrer konnte man da immer zum Anhalten bringen, bei Fahrradfahrern gelingt das nicht. Die fahren einfach weiter und bremsen wirklich nie. Sie müssen also warten, bis der Pulk abgeflossen ist - auf beiden Spuren. Aber es ist ja auch eine "Fahrradstraße".

  • My CAR is my castle.....

    • @Perkele:

      Ja, genau, das hat was mit Trennung zu tun. Da ist eine Maschine zwischen einem selbst und den anderen und die hat eine Eigenlogik. Das macht das Fahrrad auch.



      Deshalb genieße ich es immer, wenn ich Zeit habe und zu Fuß gehen kann.