Trümmer der Brandmauer

Ursula von der Leyen spielt Rechtsstaatlichkeit gegen transatlantischen Dogmatismus aus – und kooperiert auf dieser Basis mit Rechtsextremen

Illustration: Katja Gendikova

Von Lea Fauth

Im Dezember 2023 bot Bundeskanzler Olaf Scholz dem ungarischen Autokraten Victor Orbán an, doch einfach mal für eine Kaffeepause rauszugehen, während die übrigen EU-Länder die Ukraine zur Beitrittskandidatin erklärten. Orbán verließ während des EU-Gipfels tatsächlich den Raum und legte kein Veto ein. Diesen Verfahrenstrick bezeichnete der ukrainische Botschafter Oleksij Makejew später als „diplomatische Meisterleistung“.

Man will sich die Augen reiben bei der Idee, dass der rechte Hardliner und Putin-Unterstützer Orbán sich durch ein kindliches „Guck mal kurz weg“ hat überzeugen lassen. Hat er natürlich nicht. Wer da im Hintergrund die Fäden zog, war in erster Linie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU). Ob es sich dabei um eine diplomatische Meisterleistung handelt – nun ja. Der EU-Grünen-Abgeordnete Daniel Freund bezeichnete den Vorgang als Kuhhandel. Von der Leyen hatte nämlich wenige Tage vor besagtem EU-Gipfel den Geldhahn aufgedreht: 10,2 Milliarden Euro für Ungarn. Immerhin etwa 6 Prozent des ungarischen Bruttoinlandsprodukts.

Diese 10,2 Milliarden Euro sind Teil jener EU-Fördergelder, die eigentlich eingefroren wurden, weil Ungarn gegen eine Reihe rechtsstaatlicher Grundregeln verstößt. 2022 hatte das EU-Parlament dem Land den Status der Demokratie abgesprochen. Bis auf eine Justizreform im Mai 2023 herrschen nach wie vor autoritäre Verhältnisse. Trotzdem wurden die Sanktionen gegen Ungarn im Dezember 2023 also teilweise aufgehoben. Und das zufällig vor einem EU-Gipfel, bei dem man die ungarische Regierung milde stimmen wollte. Gegen von der Leyen läuft wegen des Vorfalls denn auch eine Klage vor dem höchsten EU-Gericht, initiiert von EU-Parlamentarier*innen. Sie habe sich von Orbán erpressen lassen, kritisierte die Opposition. Auch als Bestechungsversuch ihrerseits ließe sich die Sache deuten.

Der Vorgang ist keine Lappalie – und in seiner Logik kein Einzelfall, sondern Inbegriff der europäischen Prioritätensetzung. Man darf als Regierung eines Mitgliedstaats autoritär, antidemokratisch und offen rechtsextrem sein, solange man sich den außen- und wirtschaftspolitischen Leitlinien anpasst. Dass so rechtsstaatliche Verfehlungen hingenommen werden, ist gefährlich.

Natürlich braucht ein angegriffener Staat wie die Ukraine Solidarität und Unterstützung. Doch ist die Solidarität der EU-Mitteparteien erstens nicht nur hehre Absicht, sondern auch geostrategisches Interesse.

Zweitens beinhaltet das bloße Ansinnen an sich noch keine tragfähige Strategie, aus der sich die vorbehaltlose Zustimmung aller Staaten ergeben kann. Viele EU-Bürger*innen wünschen sich eine diplomatische Lösung. Dass weitere Waffenlieferungen und EU-Beitrittsverhandlungen der vielversprechendste Weg für eine Beendigung des Kriegs sind, ist nicht ausgemacht. Auch bleibt fragwürdig, ob die Ukraine den demokratischen Mindeststandards einer EU-Mitgliedschaft entspricht: Seit dem russischen Angriff wurden in der Ukraine Pressefreiheit und Oppositionsarbeit gefährlich behindert, auch Korruptionsprobleme gibt es weiterhin.

Die Unbedingtheit, mit der die Europäische Volkspartei (EVP) ihre Ukrainelinie durchpeitscht, ist also schon für sich genommen unangemessen. Darüber hinaus aber dient diese dogmatische Linie den EU-Ländern offenbar als Tauschpfand gegen demokratische Standards. Das eine wird gegen das andere ausgespielt. Orbán darf weiter undemokratisch sein, wenn er bei der Ukraine mitmacht.

Dass es unantastbare – und fragwürdige – Grundpfeiler in der EU gibt, die über der Demokratie stehen, wurde schon während der Finanzkrise in den 2010er Jahren deutlich, insbesondere an Griechenland. Alexis Tsipras, von 2015 bis 2019 griechischer Ministerpräsident, stufte die Grundbedürfnisse der Griech*in­nen höher ein als die Interessen privater Gläubiger und hatte sich an die unverhandelbare EU-Säule der Besitzverhältnisse gewagt – was ihn zur ultimativen Persona non grata in der EU machte und scheitern ließ.

Mit den Rechten Giorgia Meloni (Fratelli d’Italia), Victor Orbán (Fidesz) und bis 2023 auch der polnischen PiS-Partei arrangiert man sich im Vergleich ganz gut. Sogar sehr gut. Unter der italienischen Ministerpräsidentin Meloni wird gleichgeschlechtlichen Paaren die Elternschaft gemeinsamer Kinder aberkannt, Seenotrettung schikaniert und verfolgt. Meloni plant außerdem eine autoritäre Verfassungsreform. In der EU will ihr das aber niemand so richtig übel nehmen.

Vermutlich, weil sie vorbildlich außen- und wirtschaftspolitisch mitzieht. Da werden Hände geschüttelt und Küsschen gegeben, eine Vielzahl gemeinsamer Reisen unternommen: Von der Leyen versteht sich blendend mit der Postfaschistin. Und nicht nur sie. Auf Ebene der EU, der Nato und der G7 könne man „gut zusammenarbeiten“, lobte auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) – und brachte die Prioritätensetzung damit auf den Punkt: Es geht ums Mitmachen bei Militär- und um Wirtschaftsbündnissen (G7 und Nato), nicht um Demokratie und Rechtsstaat.

„Die Brandmauer – also dass potenzielle Partner der EVP proeuropäisch, pro Nato, pro Rechtsstaat und pro Ukraine sein müssen, verläuft im Europaparlament rechts von Melonis Partei“, so bekannte kürzlich auch Jens Spahn (CDU) freimütig und um keine Widersprüchlichkeit verlegen. Ähnlich der EU-Politiker und EVP-Vorsitzende Manfred Weber im Interview mit der FAZ: „Ich habe für jede Kooperation drei Bedingungen formuliert: pro Europa, pro Ukraine, pro Rechtsstaat.“ Praktisch ist der Rechtsstaat in dieser Aufzählung mehr eine Formalie – und kann im Zweifel durch die anderen Punkte ersetzt werden. Das aber ist nicht mit Pragmatismus für ein übergeordnetes Ziel zu rechtfertigen.

Lea Fauth

ist freie Journalistin in Berlin. Sie hat Philosophie und Literatur in Frankreich und Portugal studiert und bei der taz als Redakteurin gearbeitet.

Der globale Rechtsruck ist eine akute Bedrohung. Ihn aus realpolitischer Motivation heraus zu ignorieren, ein Auge zuzudrücken, ist verantwortungslos. Außerdem drängt sich der Verdacht auf, dass die menschenfeindliche Politik der rechten Regierungen von den EU-Mitteparteien eben nicht nur als Kollateralschaden eines Kompromisses billigend in Kauf genommen wird – sondern Teil einer gemeinsamen Ideologie ist: der einer mörderischen Festung Europa.

So fuhr Ursula von der Leyen im März 2024 mit einer Delegation verschiedener EU-Regierungschefs nach Ägypten, darunter Karl ­Nehammer (ÖVP) aus Österreich, Kyriakos ­Mitsotakis (Nea ­Demokratia) aus Griechenland und Giorgia ­Meloni: eine Mischung aus konservativen bis extrem rechten Politiker*innen, die dem ägyptischen Diktator Abdel Fatah al-Sisi ein Sieben­milliardenpaket auf den Tisch legten, damit dieser die Flüchtenden des afrikanischen Kontinents weiterhin zurückhalte.

Alle Beteiligten dürften wissen, welches Ausmaß an Grausamkeit sich hinter dem Euphemismus versteckt: gewaltsame Vertreibungen, aussetzen und verrecken lassen in der Wüste, günstige Bedingungen für Menschenhandel. In Libyen führte das EU-finanzierte Aufhalten der Geflüchteten in der Vergangenheit zur Errichtung berüchtigter Internierungslager.

Bei so viel Harmonie der Abschottungspolitik und der Gemeinsamkeiten zur Ukraine war es nur logisch und konsequent, dass von der Leyen im April ankündigte, im Falle einer Wiederwahl mit den Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) zu kooperieren, also mit jener Fraktion, in der sich von Fratelli d’Italia über die PiS-Partei bis zum rechtsextremen Hardliner Eric Zemmour aus Frankreich (Reconquête) die Neurechten und ihre Gewaltfantasien nur so tummeln. Von der Leyen braucht deren Stimmen, um sich als EU-Kommissionspräsidentin im Amt zu halten.

Als EU-Mitgliedstaat darf man autoritär und rechtsextrem sein, solange man sich den außenpolitischen Leitlinien anpasst

Weit weg scheint die Erinnerung an Thomas Kemmerich (FDP), der 2020 in Thüringen sein Amt als Ministerpräsident bereits nach einem Tag abgeben musste, weil er mithilfe von AfD-Stimmen gewählt worden war. Die EU-Ebene ist offenbar zu weit weg, um für ähnlich starke Aufschreie zu sorgen. Und letztlich ist es eben auch nichts Neues: Von der Leyen ließ sich bereits 2019 mit den Stimmen der PiS-Partei und der Fidesz-Partei ins Amt der Kommissionspräsidentin hieven – vielsagenderweise war für die ungarischen und polnischen Rechten damals schon klar, dass von der CDU-Politikerin im Vergleich zu Konkurrent Frans Timmermanns keine allzu harten Maßnahmen wegen demokratischer Verstöße zu erwarten seien.

Die tödliche gemeinsame Abschottungspolitik zeigt: Es ist nicht nur ein pragmatischer Kompromiss, sondern eine von ideologischen Gemeinsamkeiten gespickte Allianz, die dieses Mal entsteht. Die Brandmauer ist nicht nur gekippt, sondern auf ihren Trümmern wird der rote Teppich ausgerollt. Hofiert werden jene Rechtsextremen, die erstens von der Leyens Macht erhalten und zweitens den geopolitischen Dogmen ihrer Partei folgen.

Prognosen zufolge fällt die Beteiligung an den Europawahlen besonders hoch aus, weil viele den befürchteten Rechtsruck verhindern wollen. Der aber ist längst eingetreten und dürfte sich mit dieser angekündigten Kooperation verstärken. Wer dem ernsthaft etwas entgegensetzen will, kann auf die Mitteparteien nicht zählen und muss sich explizit gegen sie stellen. Das betrifft sowohl von der Leyens EVP als auch Sozialdemokraten und Grüne. Letztere haben dem Rechtsruck Vorschub geleistet, indem sie die europäische Asylrechtsreform teilweise mitgetragen haben. Und auch für sie sind Rechtsstaatlichkeit und Brandmauer den wirtschaftlichen und außenpolitischen Zielen meist nachgeordnet.