Von Schweinen und Menschen: Du bist, was frisst, was du isst
Das Havelländer Apfelschwein lebt von Apfelresten. Längst ist der Name zur Marke geworden. Doch die Zeiten sind nicht gut für edle Schweine.
Am Straßenende liegt die Farm Katerbow, eine ehemalige LPG, grau, pragmatisch, charmant. Den Eingang markiert ein Bungalow, an die Tür tritt ein Rheinländer im grünen Overall. Mit seinem zurückfallenden grauen Haar und der runden Brille wirkt der Mann wie ein Intendant, nicht wie ein Schweinebauer. Doch Winfried Koch hat das Havelländer Apfelschwein erfunden.
„Havelländer Apfelschwein“. Der Wechsel von betonten und unbetonten Silben, offene Vokale von A bis Ä, und das „-schwein“, das sie zum Ende schließt, machen den Namen so ungemein wohlklingend. Und so prangt das „Havelländer Apfelschwein“ seit 2009 auf den Menüs von Orten, an denen die Kundschaft gutes und nachhaltiges Essen schätzt, von Sarah Wiener bis zum japanese influenced brunch café in Berlin-Mitte, vom Grand Hyatt übers Curry 36 bis zur taz Kantine. Das Apfelschwein ist das Kobe-Rind von Berlin.
„Das Havelländer Apfelschwein ist eine Erfolgsgeschichte“, sagt Winfried Koch. Er ist stolz auf alles, was seine Schweine von herkömmlichen Schweinen unterscheidet. Aber er sagt auch: „Seit diesem Jahr ist es keine Erfolgsgeschichte mehr.“
Bevor wir dazu kommen, räumen wir mit einem Missverständnis auf: Das Apfelschwein isst keine Äpfel. Zumindest nicht im engeren Sinn. Das Apfelschwein frisst Futter mit Apfeltrester, der Masse, die nach dem Pressen von Apfelsaft bleibt.
Ohne den Apfeltrester kein Apfelschwein. Mitte der 2000er war Winfried Koch noch selbstständiger Produktentwickler. Als solcher sollte er etwas Sinnvolles mit Apfeltrester anstellen, der voll ist von Ballaststoffen mit ein wenig Pektin – laut Koch „gut für die Darmflora“. Ursprünglich wollte er den Trester an Menschen verfüttern, aber er experimentierte auch mit Schweinen, Ergebnis: gutes Futter, aber nicht wirtschaftlich. Dennoch entschied sich Koch bald, auf einem Hof nahe der Havelquelle seine eigenen Tiere mit Apfeltrester zu füttern. Denn die Schweine aus dem Experiment schmeckten zu gut.
Der Name entstand bei einer Autofahrt mit einem Kollegen. Seit 2009 ist das „Havelländer Apfelschwein“ als Patent eingetragen. Du bist, was frisst, was du isst.
Im Jahr 2013 übernahm die Bio Company den Hof, Winfried Koch zog um nach Katerbow. Im Havelland liegt das nur noch nach sehr großzügiger Grenzziehung. Aber die Haltung sei die gleiche, sagt Koch, er will zeigen, was seine Schweine von quasi allen anderen unterscheidet, und führt in Richtung Schweinestall. Raus aus dem Bungalow geht der Weg an einem Außengehege vorbei, groß wie ein schmal geratener Tennisplatz. Drei Schweine hüpfen weg. Eine Schrecksekunde später laufen sie zu uns, zum Gitter. „Wenn Sie mal auf einem anderen Hof sind, sehen Sie: Die Schweine rennen vor Ihnen davon“, sagt Koch. „Meine aber sind neugierig, wollen einen kennenlernen.“
Dutzende Tiere laufen nun raus ins Gehege – es ist zum Stall hin offen, wie in einem Bad, wo man von drinnen nach draußen schwimmen kann. Sie drängen ans Gitter, springen auf ihre Kumpanen, um besser zu sehen. Koch: „Das ist der Unterschied: Andere müssen die Schweine vor sich hertreiben, ich kann sie einfach rufen. Selbst an der Schlachtbank.“
Ab hundert herrscht Anarchie
Im Stall grunzen und tollen über 400 rosa Schweine in mehreren Buchten, von denen einige größer sind als eine Gründerzeitwohnung. Alle Buchten sind offen.
In gewöhnlicher Mast teilt sich ein Dutzend Schweine eine Bucht, denn bei größeren Gruppen kommt es schnell zu Rangeleien. In Katerbow aber: keine Parzellen, keine vorgegebenen Essenszeiten, kein Kastenstand. Für Koch ist es das Ergebnis einer sozialen Feldstudie, und zu der liefert er eine Gesellschaftstheorie: „In Gruppen bis etwa achtzig Tiere bilden sich Hierarchien, das führt zum Bandenkrieg. Aber ab hundert herrscht Anarchie.“
„Und Anarchie ist wünschenswert?“
„Ja.“
Eine schwarz glänzende Ratte rennt am Gitter entlang, Koch ruft: „Das ist Natur!“ Ihren Rhythmus würden die Schweine selbst entwickeln: wühlen, suhlen, fressen, wann sie wollen. Nach Lust und Schweinelaune mit anderen abhängen oder chillen. Im Ergebnis gebe es leckeres, kerniges Fett, wie „Marzipan“, sagt Koch. Und eben kein „auf hundert Kilo hochgezüchtetes Wassertier“.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Das ging lange Zeit sehr gut, da war das „Havelländer“ in den Restaurants meist aus gewesen, erzählt Koch. Seit Beginn kommt das Apfelschwein ausschließlich in Berlin auf den Teller und an die Theke: 100 Gramm Salami für 3,65 Euro. Im Monat sind es gut hundert Schweine, so ist in Berlin nur etwa jedes zweitausendste Schwein aus Katerbow. Der Begriff „Echt Havelländer“ ist trotzdem zur Marke geworden.
In Zeiten von Inflation und Multikrise aber würden die Leute zuerst beim Apfelschwein sparen, sagt Koch. Es laufe schlecht. Koch teilt aus in alle Richtungen und setzt in jede doch ein bisschen Hoffnung: In Discounter-Deutschland solle Essen zwar ein Erlebnis sein, dabei aber lieber billig als gut.
Gleichzeitig meint Koch: „Der Verbraucher ist noch immer auf der Suche nach sich selbst.“ Die Agrargesetzgebung wiederum ziele komplett auf Massentierhaltung; demnach würde die Farm Katerbow „alles falsch machen, was man falsch machen kann“. Doch das Veterinäramt erkenne, dass es den Schweinen gut geht. Koch sieht seine Farm als Vorbild für die Zeit nach dem Kastenstand, irgendwann ab 2030.
Das Apfelschwein soll eine Alternative bieten zur industriellen Schweineproduktion und pikst dabei in deren historisches Zentrum. Denn ohne Schwein wäre Berlin nicht Berlin.
„Das Schweinefleisch ist auf Berlin zugeschnitten“, schreibt der Kulturwissenschaftler Christian Kassung in seinem Buch „Fleisch“. Da zeichnet er nach, wie neben der Dampfmaschine eben das Schweinefleisch Berlin erst zur Stadt machte, nach Jahrhunderten, in denen das Schwein kulinarisch kaum eine Rolle gespielt hat. 1883 wurde in Friedrichshain der Centralvieh- und Schlachthof fertiggestellt, mit direkter Anbindung an die ebenso neue Ringbahn, über die Schweine aus Vorpommern anrollten, 1904 erstmals über eine Million.
Das Schwein ließ sich einfacher auf die neuen Bedürfnisse zuschneiden als das Rind, das hieß konkret: mehr Fett. Der Energieerhaltungssatz war um die Jahrhundertwende noch recht jung und prägte das Denken. Für hohe Leistung bräuchten die Berliner Arbeitenden möglichst viel Brennwert, und am meisten davon ist nun mal im Speck. Kassung analysiert: „Nur wenn Fleisch zu einem Preis angeboten wurde, der es für den Arbeiter gerade noch erschwinglich machte, konnte dieser die für seine Tätigkeit notwendige Energie aufbringen.“
Schwein war der Energy-Ball der Arbeitenden – mageres Muskelfleisch fand erst später Fans, als „agiles, beschleunigendes, geradezu nervöses Nahrungsmittel“ der Städterinnen und deren „Denkfreudigkeit“.
Mit dem Apfelschwein setzt Winfried Koch weder auf Brennwert noch auf Denkanregung, sondern auf den Genuss möglichst autonomer Lebewesen. Das taugte jahrelang als Distinktionsmerkmal von gehobener Gastronomie bis zur Currywurstbude. Aber Lifestyle allein zieht nicht mehr, jetzt ist Koch darauf angewiesen, dass seine Alternative zur konventionellen Haltung politisch gewollt ist. Winfried Koch verabschiedet sich und entschuldigt sich für die knappe Zeit, er muss nach Berlin.
Der Autor fährt bald auch dorthin, legt aber auf halber Strecke einen Stopp ein, kauft beim Katerbow-Metzger eine Scheibe Apfelschweinebraten und verputzt sie noch im Auto. Die Fasern sind fest. Am Steuer lutscht er die kernige Schwarte.
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