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Die wohl bekannteste Erzählung handelt von verheißungsvollem Licht Foto: Christian O. Bruch/laif

Vom Leben und SterbenDem Tod so nah

Ostern ist das Fest der Auferstehung. Vier Menschen berichten von ihren Nahtod­erfahrungen – und wie sie ihre Haltung zum Leben bis heute prägen.

„Es war eine Kraft oder eine Macht, die mir Stärke gab“

Seyran Ateş, 61, Juristin, Autorin und Geschäftsführerin in der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, Berlin

Mit 17 bin ich von zu Hause weggelaufen. Ich komme aus einer türkisch-kurdischen Familie und wurde sehr traditionell erzogen. Als Tochter durfte ich kaum das Haus verlassen. Anfangs hatte ich große Angst, dass sie mich zurückholen, aber mit der Zeit hat sich meine Familie mit der Situation arrangiert. Ich habe Jura studiert und mit meinem deutschen Freund in einer WG in Berlin-Kreuzberg gelebt. Neben dem Studium arbeitete ich in einem Frauenladen. Ich habe dort für türkische Frauen übersetzt und sie in Alltagsfragen beraten.

Um mich ganz auf das Studium zu konzentrieren, kündigte ich den Job. Weil ich meine Nachfolgerin einarbeiten sollte, war ich an einem Dienstag im Herbst 1984 noch mal dort. Ich kümmerte mich gerade um eine Frau, die Post vom Arbeitsamt bekommen hatte, als ein älterer türkischer Mann in der Tür stand. Meine Kolleginnen versuchten, ihn abzuwimmeln. Da schob er die Hand in die Brusttasche seines Trenchcoats. Er zog tatsächlich eine Pistole und zielte auf mich und die Frau. Ich sah in den Lauf und dachte: Scheiße, der erschießt dich jetzt. Das kann doch nicht sein.

Ich hörte drei Schüsse und hatte unmittelbar danach das Gefühl zu schweben. Es war, als säße ich auf einem Thron. Ich fühlte mich leicht und klar. Unter mir sah ich mich selbst auf dem Boden liegen, in einer Blutlache, die sich um meinen Hals herum ausbreitete. Dann wechselten die Bilder: Mal saß ich auf dem Thron, mal spürte ich, wie ich auf dem Boden lag.

Ich dachte: Ich sterbe jetzt. Wenn mein ganzes Leben wie ein Film vor mir abläuft, dann sterbe ich. Oft hatte ich davon gehört. Ich wartete kurz, aber der Film kam nicht. Also hatte ich vielleicht eine Chance. Ich dachte an meine Eltern, an meinen Freund und daran, wie traurig sie wären, wenn ich sterben würde. Außerdem dachte ich an unseren Kater, der war kurz zuvor weggelaufen. Ich kann doch nicht sterben, bevor ich ihn wiedergefunden habe, dachte ich. Im Hals spürte ich, wie mir langsam die Luft wegblieb.

Ich wurde bewusstlos. Danach sah ich, wie meine Kollegin verzweifelt versuchte, den Notruf anzurufen, sie wählte kopflos irgendwelche Nummern. „Du musst 110 oder 112 wählen“, sagte ich, aber sie hörte mich nicht.

Wir haben später darüber gesprochen. Was ich gesehen hatte, stimmte. Aber von da, wo ich lag, auf dem Boden, mit dem Gesicht zur Tür, hätte ich das Telefon unmöglich sehen können.

Nach einer Weile kam eine Ärztin aus einem benachbarten Krankenhaus, dann die Feuerwehr. Ich beobachtete von oben, was passierte. Ich hatte Kontakt mit etwas außerhalb unseres Bewusstseins. Es war eine Kraft oder eine Macht, die mir Stärke gab. Mein Kopf war klar, und ich fühlte mich glücklich wie noch nie in meinem Leben, vollständig getragen und geborgen. Ich verstand, dass ich dieses Glück behalten konnte, wenn ich mich entschied zu sterben. Ich würde dem Licht entgegenschweben und nie wiederkommen. Die Verlockung war sehr groß, denn das Gefühl war unbeschreiblich schön.

Aber ich durfte abwägen, ob ich schon genug hatte von diesem Leben hier. Ich wollte nicht davonschweben. Ich wollte noch bleiben. Es war nicht nur mein Kater, an den ich absurderweise dachte. Der Grund, warum ich nicht sterben wollte, war ich selbst. Ich war noch zu jung.

Ich glitt aus den höheren Gefilden langsam wieder hinunter. Das Licht, das ich von Weitem gesehen hatte, verschwand. Ich überlebte. Die Frau, die ich beraten hatte, starb.

Manche finden sich in einem lichten Tannenwald, einem großen Saal oder hoch oben auf einem Thron wieder Foto: Christian O. Bruch/laif

Der Attentäter kam aus dem Umfeld der Grauen Wölfe. Doch weil bei der Beweisaufnahme Fehler gemacht wurden, sprach das Gericht ihn frei.

Als ich damals beinahe gestorben wäre, habe ich selbst erlebt, dass es eine Kraft, einen Gott gibt. Ich weiß jetzt, dass ein Teil meines Ichs auch außerhalb meines Körpers existiert, meine Seele oder wie man das bezeichnet. Das hat mich in meinem Glauben bestärkt, es trägt mich bis heute. Ich bin dankbar und demütig und ich freue mich über jeden Tag.

Protokoll: Antje Lang-Lendorff

„Meine Mutter war bei mir, umarmte und tröstete mich“

Sven Hansen, 63, taz-Redakteur, Berlin

Etwas war aus dem Lot geraten. Das spürte ich deutlich. Es war un­angenehm und irritierend. Aber ­letztlich war es nicht schlimm, schließlich nahm mich meine Mutter in den Arm und tröstete mich. Alles war gut.

Es war ein Sonntagnachmittag im September 1967 in Hamburg, als meine Kleinfamilie wenige Wochen nach meiner Einschulung die Unterelbe rauf in Richtung unseres Heimathafens Finkenwerder segelte. Ein schöner Tag.

Doch vor Blankenese kam plötzlich eine Bö den Berg runter und warf das Boot um, einen selbst gebauten Jollenkreuzer aus Stahl. Ich spielte gerade in der Kajüte und knallte mit dem Kopf irgendwo gegen, vielleicht traf mich auch ein Gegenstand, das weiß ich nicht. Ich war sofort bewusstlos. Glücklicherweise bildete sich in der schnell voll Wasser laufenden Kajüte eine Luftblase. Ich konnte atmen, sonst wäre ich ertrunken.

Ich war bewusstlos und bekam doch mit, dass etwas nicht stimmte. Gleichzeitig war ich ganz ruhig, denn meine Mutter war bei mir, umarmte und tröstete mich.

In Wirklichkeit tauchte plötzlich mein Vater in die Kajüte, er herrschte mich panisch an: „Raus hier, schnell, bevor das Boot sinkt!“ Ein böses ­Erwachen. Da merkte ich auch erst, dass ich ganz nass war. Entsetzt über den rüden Ton meines besorgten Vaters fing ich an zu weinen. „Raus hier!“, brüllte er erneut.

Aus Protest krallte ich mich irgendwo fest, mein Vater bekam mich nicht los. Geistesgegenwärtig gab er mir eine Ohrfeige, ich ließ los. So konnte er mit mir zum Ausgang tauchen. Draußen hielt sich meine Mutter schon auf dem umgekippten Rumpf fest und nahm mich in den Arm. ­Anders als in meiner Bewusstlosigkeit war die Umarmung nass und kalt.

Bald nahm eine Elbfähre meine Mutter und mich auf. Die Mannschaft steckte uns in den Maschinenraum, an den wärmsten Ort im Schiff. Mein ­Vater hat das Boot mit fremder Hilfe zum Ufer schleppen und dort am ­Laternenmast des Blankeneser Fähr­anlegers wieder aufrichten können. Segler brachten uns Gegenstände, die bei der Kenterung davon getrieben waren. Nur mein ­Fotoapparat, das ­Hauptgeschenk zur Einschulung mit seinem allerersten Film, den ich gerade vollgeknipst hatte, ist in der Elbe versunken.

Die Kenterung hat bei mir merkwürdigerweise kaum Spuren hinterlassen. Als Kind vertraute ich beim Segeln weiter meinen Eltern. Ängste entwickelte ich erst, als mein Vater mir als Achtjährigem ein eigenes Boot baute und ich plötzlich allein verantwortlich sein sollte. Es dauerte einige Jahre, bis mir auch Starkwind nichts mehr anhaben konnte.

Als ich nach langer Segelpause Jahrzehnte später mit meiner sechsjährigen Tochter bei auffrischendem Wind erstmals auf dem Berliner Wannsee segelte und sie sich in die Kajüte des Jollenkreuzers zurückziehen wollte, weil ihr kalt war, kam bei mir Panik auf: „Du bleibst draußen“, sagte ich mit Nachdruck. Sobald ich es mir leisten konnte, habe ich mir ein sichereres Kielboot gekauft. Wenn das umkippt, richtet es sich von allein wieder auf.

„Seitdem ist da ein Grundvertrauen“

Katharina H., 54, früher Trainerin für Personalentwicklung, heute Gastwirtin in Franken

Vor 15 Jahren musste ich am Gehirn operiert werden. Ich hatte einen gutartigen Tumor, der gewachsen war. Bei der Operation gab es Komplikationen, ich hatte zwei Schlaganfälle, die Ärzte mussten mich in ein künstliches Koma verlegen.

In dieser Zeit kam ich dem Tod sehr nahe. Ich war schon auf dem Weg rüber.

Da bin ich in Zwiesprache gekommen mit, ja, ich will nicht „lieber Gott“ sagen, aber da war eine Autorität. Das kann alles Mögliche gewesen sein.

Wir haben darüber geredet, dass ich noch nicht sterben will, weil da ja noch der Jörn ist, der sich so wahnsinnig um mich bemüht, der immer da ist, der sich wirklich um mich kümmert. Er wäre verzweifelt, wenn ich jetzt einfach ginge. Deshalb habe ich gesagt: Ich muss doch noch ein bisschen leben.

Ich kann mich an nichts Bildliches erinnern, da war nur dieses Gespräch. Das war total unsentimental. Es war auch nicht wie geträumt, sondern ganz authentisch, authentischer und wahrer als mein jetziges Dasein. Als hätte ich einen Moment lang meine Rolle als Katharina H. verlassen, als hätte ich dieses Gespräch geführt und gesagt, ich muss doch noch mal zurück in diese Rolle der Katharina H.

Ich hatte dabei keine Angst vor dem Tod. Im Gegenteil, ich habe bedauert, dass ich jetzt ­leider noch nicht gehen kann. Wegen Jörn wollte ich zurück. Dem ist dann stattgegeben worden. Das heißt: Nein, ich selbst habe entschieden, nicht zu sterben. Dadurch bin ich wieder­gekommen.

Nebelwolken über dem Meer vor der schwedischen Halbinsel Härnösand Foto: Christian O. Bruch/laif

Hätte mir vorher jemand so etwas erzählt, ich hätte nicht daran geglaubt. Diese Erfahrung hat meine Haltung zur Welt grundsätzlich verändert. Ich lebe jetzt mit der Gewissheit, dass da noch etwas ist nach dem Tod. Ich habe immer noch Angst, dass das Sterben wehtut. Aber ich bin mir sicher, dass man sich vor dem Tod selbst überhaupt nicht fürchten muss.

Die Krankheit und diese Erfahrung haben mich als Person verändert. Früher war ich sehr leistungsorientiert, Karriere war mir wichtig, ich war wie besessen von der Idee, dass ich etwas aus meinem Leben machen muss. Heute finde ich es wunderschön, wenn ich einfach nur die Blumen gieße, wenn ich spüle oder den Garten umgrabe.

Ich könnte auch nicht mehr so viel leisten. Die Folgen der Krankheit schränken mich ein Stück weit ein, ich habe zum Beispiel Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis.

Was genau mich verändert hat, ob es mehr die Krankheit war oder diese Jenseitserfahrung, kann ich nicht sagen. Ich habe seitdem ein Grundvertrauen, das ist einfach da. Ich bin friedlich mit der Welt.

Protokoll: Antje Lang-Lendorff

„Der Saal war hell erleuchtet und warm“

Heidrun Mauder, 79, Verlagssekretärin, Mellrichstadt

Offenbar habe ich nicht nur einen Schutzengel, sondern gleich mehrere. Mein schwaches Herz hat mich schon mehrfach fast umgebracht. Gleich zweimal bin ich nur knapp dem Tod von der Schippe gesprungen.

Vor zehn Jahren wurde ich abends mit schrecklichen Herzschmerzen ohnmächtig. Im Krankenhaus erkannte man rechtzeitig, dass es weder ein Infarkt, noch ein Schlaganfall war, sondern ein Riss in der Aorta. Ich wurde sofort operiert, meine Überlebenschance lag bei fünf Prozent. Während mich die Ärzte retteten, hatte ich ein besonderes Erlebnis.

Ich fand mich in einem Wald wieder, ein lichter Tannenwald, mit großen, moosbewachsenen Steinen. Überall brannten weiße Kerzen, die den Wald golden schimmern ließen. Dort saß ich eine Weile, bis eine junge Frau auf mich zukam. Sie war schlank, groß gewachsen und wunderschön. Ihre langen, lockigen Haare wehten über ihr schwarzes Gewand. Sie lächelte mich freundlich an und wollte mich ins Jenseits geleiten. Doch ich wollte nicht mitgehen. Vielleicht, weil ich mich in dem paradiesischen Wald so wohlfühlte. Vielleicht, weil ich wusste, dass mich das Diesseits noch braucht. Also lehnte ich ihr Angebot mit einem Kopfschütteln ab.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Dann wachte ich im Krankenhausbett auf. Mein Mann und meine Kinder saßen um mich herum. Ich hatte das Gefühl, nur kurz fort gewesen zu sein. Später erfuhr ich, dass ich fünf Wochen im Koma lag. Mühsam musste ich lernen, wieder alleine zu atmen, zu schlucken, zu sprechen, zu laufen. Doch ich kämpfte mich zurück.

Ein Jahr später musste ich am Herzen operiert werden. Es gab Komplikationen, das Herz blieb stehen. Ich war sechs Minuten lang tot – bis ich wiederbelebt wurde. Wieder hatte ich ein Nahtoderlebnis. Diesmal wachte ich in einem großen Saal auf. Er war hell erleuchtet und warm, die Decke leuchtete goldfarben, ich konnte Musik hören. Ich hätte dort für immer bleiben können. Doch außerhalb der Halle konnte ich meine Familie sehen. Meine Tochter saß dort und wartete. Ich spürte, dass es noch nicht an der Zeit für mich ist. Ich wollte zurück. Und ging.

Seit diesen Erfahrungen weiß ich, dass der Tod nichts Schlimmes ist. Ich weiß auch, dass es danach nicht zu Ende ist. Ich bin überzeugt, dass wir auf Erden geführt und im Jenseits erwartet werden.

Vor ein paar Wochen ist mein Mann gestorben. Vor 65 Jahren haben wir uns im Schwimmbad kennengelernt. Damals sagte ich zu meiner Freundin: Den heirate ich mal. Und so kam es auch. Seit ein paar Wochen muss ich ohne Rudolf zurechtkommen. Doch bei aller Trauer um ihn weiß ich: Er ist da oben und wartet auf mich. Bis dahin passt er auf mich auf. Mit ihm habe ich nun noch einen Schutzengel mehr.

Protokoll: Philipp Brandstädter

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1 Kommentar

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  • Wouh! Dankeschön TAZ!