Volle Züge: Da jubelt das Abteil!
Hygge, dieses dänische Phänomen für behagliches Wohlfühlen, ist in Deutschland angekommen. Bei der Deutschen Bahn.
Wenn man am Wochenende von der deutschen Hauptstadt von einem beliebigen Bahnhof mit dem Fahrrad an die Ostsee fahren will, kommt der Schock: Alle Fahrradabteile sind überfüllt. Dann die Überraschung: Geduldig werden die neuen Fahrräder und Fahrgäste kunstvoll gestapelt und verstaut, bis alle an Bord sind, auch die Kinder.
Zufrieden lächelt man sich an, tauscht Erfahrungen aus, Kaffee aus Thermoskannen wird angeboten, dazu kalte Wiener Würstchen mit Senf und Kartoffelsalat. An der nächsten Station wiederholt sich alles. Die Stimmung steigt. Der erste Joint macht die Runde. Ein Langhaariger mit Latzhose holt die Klampfe raus und stimmt ein Liedchen an.
Auch die neu Ankommenden der dritten Station werden liebevoll aufgenommen. Die ersten Fahrräder hängen an den Außenfenstern, manche klammern sich an die offene Tür. Wie in Indien, sagt einer mit selbstgestricktem Pullover mit Indianermotiven und grinst zufrieden. Der Zug bleibt stehen.
Da kommt der Schaffner. Sofort hat er in der Linken ein Würstchen und in der rechten einen Joint. Er runzelt die Stirn und schaut in die Runde. Skeptisch. Dann reißt er sich die Kleider vom Leib, schnappt sich die Gitarre und schmettert „Papa Was a Rolling Stone“. Da jubelt das ganze Abteil.
Inzwischen wird ein Lagerfeuer angefacht, damit man die Würstchen nicht kalt essen muss. Für die Kleinen gibt es Kindertheater. Die ersten Fahrradgruppen aus Dänemark sind angekommen. Sie wollen das deutsche Hygge-Phänomen selbst erleben. Im Gepäck die echten roten dänischen Pölser, natürlich vegan. Ein Brite beantragt spontan die deutsche Staatsbürgerschaft. Ob es auch Bier gibt, will er wissen. Natürlich, etwas warm und ohne Schaum.
Eine große glückliche Familie
Da kämpft sich ein Kontrolleur durch die Massen und brüllt: Was wird das hier? Dreißig Leute antworten wie aus einem Mund: Wir fahren an die Ostsee mit den Kindern und den Fahrrädern mit dem Ostseeticket, weil wir sind eine Familie.
Alle?, fragt der Kontrolleur skeptisch.
Ja, alle, ist die einstimmige Antwort, und es wird gelacht. Inzwischen wird das zweite Feuer angemacht, weil einer Buletten braten will. Der Kontrolleur tanzt mit dem Schaffner, der Kaspar haut dem Schupo auf den Kopf, und alle sind glücklich.
Liebe Deutsche Bahn: Danke – ihr seid so hygge. Das ist einmalig auf der Welt. Bitte kauft euch keine neuen Fahrradwaggons, bleibt so, wie ihr seid. Man muss ja nicht immer ankommen, der Weg ist das Ziel. Und ehrlich: Mehr hygge geht nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung