Volksinitiative in Hamburg: Neuer Anlauf gegen das Turbo-Abitur
Eine neue Volksinitiative fordert die Rückkehr zum Abi nach neun Jahren. Inzwischen hat sich auch die Stimmung unter einigen Lehrerverbänden gedreht.
„Seither ist viel passiert“, sagt Iris Wenderholm, die gemeinsam mit Katrin Born zum harten Kern der neuen Initiative gehört. Die habe mit der alten nichts zu tun und sei politisch unabhängig. „Ich beobachte, dass der Druck an den Gymnasien unheimlich gewachsen ist. Das hat mit den Krisen unserer Zeit zu tun“, sagt Wenderholm. Dazu zählten die Coronakrise und der Ukraine-Krieg, die Herausforderung der Digitalisierung, neue Abitur-Anforderungen und gestiegene Stofffülle durch neue Bildungspläne in Hamburg.
Die Gruppe hatte bereits im März in einer Onlinepetition kritisiert, dass Hamburg als eines der letzten alten Bundesländer an der Reform des achtjährigen Abiturs (G8) festhält und dafür rund 7.200 Unterstützer gewonnen. Auch viele Lehrer berichteten, dass die mentale Gesundheit der Schüler unter dem Druck leide. „Wir wünschen uns für unsere Kinder mehr Luft“, sagt Katrin Born.
Fehlende Zeit für Reife
Da viele der alten Bundesländer bereits zum G9 zurückgekehrt sind, stelle sich auch die Frage der Gerechtigkeit, „wenn bundesweit alle Schüler das gleiche Abitur schreiben und unsere Kinder ein Jahr weniger haben“. Die Politik müsste schauen, was gut für die Kinder ist. „Durch das G8 fehlt Zeit für die Reife“, sagt Born.
Konkret fordert die Initiative die „sofortige Einführung einer Vorstufe für die jetzigen 5. bis 10. Klassen“. Damit ist die 11. Klasse gemeint, die im G8 eingespart ist, im G9 ist sie Vorbereitungsstufe für die 12. und 13. Klasse. Die Volksinitiative will die Gruppe Ende nächster Woche einreichen.
Es gibt ein triftiges Gegenargument, das letztlich dazu führte, dass die Vorgänger-Ini 2014 verlor: Es gibt in Hamburg die Möglichkeit des Abiturs nach neun Jahren, und zwar an den Stadtteilschulen – die für alle Kinder da sind. Würden alle Gymnasien G9 haben, so würden die Stadtteilschulen diesen Pluspunkt bei der Werbung um leistungsfähige Schüler verlieren. Die soziale Spaltung der Schulen würde noch größer.
Dazu sagen die Initiativ-Eltern, dass sie die Stadtteilschulen gut fänden, teils auch ihre Kinder dort anmeldeten, aber dennoch für die Gymnasien die Lernbedingungen verbessern wollen. „Wir glauben an das Zwei-Säulen-Modell“, sagt Born. Hätten beide Schulformen das G9, wäre die Stadtteilschule ja immer noch die mit den besseren Ressourcen. Zudem hätten Schleswig-Holstein und das Saarland, wo es auch ein Zwei-Säulen-Modell gibt, die Rückkehr zum G9 beschlossen, ohne dass es bislang zum befürchteten Run auf die Gymnasien kam.
„Wir wollen die Politik auf das aufmerksam machen, was Hamburgs Eltern bewegt“, sagt Born. Sie erwarte von Parteien, die sich für Bildung stark machten, dass sie diese „immer wieder neu bewerten“.
Differenzierter als 2014 sieht die Sache heute auch die Vereinigung der Leitungen Hamburger Gymnasien und Studienseminare (VLHGS). „2014 waren wir klar für G8. Das hat sich geändert“, sagt der Vorsitzende Christian Gefert. Die Meinung der Kollegen sei gespalten. „Eine große Fraktion sagt, es gibt eine solche zeitliche Verdichtung unter anderem durch die neuen Bildungspläne an den Schulen, dass man G8 nicht mehr verantworten kann.“ Viele sähen, dass die Kinder darunter litten. Inwieweit die Vereinigung die Initiative unterstütze, könne man erst sagen, wenn deren Text vorläge. „Was wir uns beispielsweise gut vorstellen können, ist eine flexible Oberstufe, bei der die Schüler zwölf oder 13 Jahre bis zum Abitur Zeit haben“, sagt Gefert.
Druck aus der Mittelstufe nehmen
Den Druck aus der Mittelstufe herauszunehmen, indem die Oberstufe wieder erst in der 11. Klasse beginnt, das könnte sich auch Yvonne Heimbüchel vorstellen, die stellvertretende Vorsitzende der Hamburger GEW und Sprecherin der Fachgruppe Gymnasien. „Unsere Idee ist die des Abiturs im eigenen Takt“, sagt Heimbüchel. Dabei könnten Schüler die Oberstufe in zwei, drei oder auch vier Jahren durchlaufen. Auch die Prüfungen des Abiturs könnten nach und nach abgelegt werden, je nachdem, wie weit ein Schüler sei.
Die Schulpolitikerin der Linksfraktion, Sabine Boeddinghaus, sagt: „Ich freue mich riesig über die Initiative, weil sie die Debatte aufmacht, was gute Schule ausmacht.“ Wenn die Gymnasien ein zusätzliches Lernjahr bekämen, müssten sie auch mehr Verantwortung übernehmen, indem sie keine Schüler mehr abschulten und sich an Inklusion und Integration beteiligten. 2014 noch hat Boeddinghaus die G9-Volksinitiative als Angriff auf die Stadtteilschule gesehen. Heute höre sie auch von Gymnasialschulleitern, „dass das zusätzliche Lernjahr vom Kind her gedacht richtig wäre“.
Schulsenator Ties Rabe (SPD) sagte indes, „in G9-Ländern klagen Schüler ebenfalls über die Schule“ und warnte vor eine „Reformhektik“, deren Zeche die Schüler zahlten. So müssten die Gymnasien für 300 Millionen Euro ausgebaut werden, was zu Lasten der 59 Stadtteilschulen und 204 Grundschulen ginge. Auch hätten G9-Schüler tatsächlich nur 19 Minuten weniger Unterricht am Tag. Wegen 19 Minuten würde man also „das gesamte Schulsystem in eine jahrelange Reformbaustelle stürzen“.
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