Völkerrechtsverletzung bei Terrorabwehr: Lizenz zum Töten
Der Niedergang des Völkerrechts ist mit dem War on Terror eng verknüpft. Heute ist der Terrorvorwurf weltweit ein Mittel der Entrechtung.
E rstaunlich viele Menschen meinen, es sei vom Völkerrecht gedeckt, Terrorverdächtige zu töten. Dabei gibt es nicht einmal eine international vereinbarte Definition, was Terrorismus ist, obwohl darüber jahrelang konferiert wurde. Woher also der Glaube, mit dem Terrorvorwurf werde eine Lizenz zum Töten erteilt? Weil es so seit fast einem Vierteljahrhundert gehandhabt wird.
Die Zäsur kam mit dem War on Terror, den US-Präsident George W. Bush 2001 nach den Anschlägen auf das World Trade Center ausrief. Völkerrechtliche Maßstäbe wurden über Bord geworfen oder „schamlos umdefiniert“, resümiert der Strafrechtler Christoph Safferling in seinem neuen Buch „Ohnmacht des Völkerrechts“. Safferling, Leiter der Internationalen Akademie Nürnberger Prinzipien, erinnert daran, dass selbst die NS-Hauptkriegsverbrecher im Nürnberger Prozess Menschenrechte besaßen, sogar Verteidiger hatten, während der moderne Terrorverdächtige quasi außerhalb des Rechts steht. Zudem machte der neue Terminus „unlawful enemy combattant“ die fundamentale Unterscheidung zwischen militärischen Kombattanten und Zivilisten zunichte.
In diesen Kontext gehört der genozidale Krieg in Gaza, mit der Masse an zivilen Opfern eine Wegmarke in der Verfallsgeschichte des Völkerrechts. Dass jemand durch den Ort, an dem er oder sie sich aufhält, das Recht auf Leben verwirkt, wurde zuerst aus dem Drohnenkrieg der USA bekannt. Das Weiße Haus entschied unter Präsident Barack Obama, wer sich mit einem Terrorverdächtigen in einem Haus aufhalte, sei nicht als Zivilist anzusehen. Im Gazakrieg wurde diese Regel auf ein Gebiet von der Größe der Stadt Köln ausgedehnt. Niemand ist unschuldig!
Rache statt Gerichtsbarkeit – auch dieses Prinzip kam mit dem War on Terror. Gegenüber der Hamas verfuhr Israel, wie die USA in Afghanistan verfuhren: Gefangene werden nicht gemacht, sofort hinrichten statt anklagen. Die Liquidierung Osama bin Ladens verfolgte die Obama-Riege im Weißen Haus in Echtzeit, wie im Heimkino. In Israel, wo es einmal einen Eichmann-Prozess gab, wurde gegen keinen Täter des 7.-Oktober-Massakers Klage erhoben.
Antiterrorismus ist heute ein weltweites Modell und wird immer dann beschworen, wenn es gilt, den Betroffenen ihre politischen und bürgerlichen Rechte abzuerkennen. Der Terrorvorwurf trifft völlig unterschiedliche Phänomene, politisch motivierte Gewalt ebenso wie strikt gewaltfreie Dissidenz. In Indien, Ägypten, Saudi-Arabien oder der Türkei trifft er Menschenrechtsaktivisten, im Syrien unter Baschar al-Assad traf er weite Teile der Opposition. Donald Trump erklärt die Fischer vor den Küsten Venezuelas ebenso zu Terroristen wie antifaschistische Basisgruppen.
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In Großbritannien drohen den Unterstützern von Palestine Action bis zu 14 Jahre Haft. In Frankreich wurden Hunderte von propalästinensisch Aktiven wegen „apologie du terrorisme“ angezeigt, der Generalsekretär der Gewerkschaft CGT-Nord bekam ein Jahr Gefängnis auf Bewährung. Die Liste lässt sich fortsetzen, in 150 Ländern sind Antiterrorgesetze in Kraft. „Terror“ ist das Etikett der Wahl in der autoritären Welle, die um die Welt geht.
Neutralisieren, unschädlich machen: Die französische Politik verwendete für das Töten bewaffneter Islamisten im Sahel über Jahre Begriffe aus der Insektenvernichtung. Der militärische War on Terror ist auf den meisten Schauplätzen gescheitert; ihn rechtlich wie psychologisch zu entgrenzen, hat nicht geholfen. Bestrebungen in Mali, mit Dschihadisten zu verhandeln, wurden auf französischen Druck hin fallengelassen. Ironischerweise stürzte dann die letzte vom Westen als demokratisch anerkannte Regierung in Bamako über den blutigen Einsatz einer Antiterrorbrigade gegen friedfertige Demonstranten.
Sobald der Terrorvorwurf erhoben ist, fühlen sich Polizei und Militär als letzte Instanz. Ein Terrorverdächtiger ist tötbar, kann auf der Stelle hingerichtet werden, so wie in diesen Tagen zwei Kämpfer des „Palästinensischen Islamischen Dschihad“ in Dschenin im Westjordanland, deren erhobene Hände bedeutungslos waren. Das Verhalten der Soldaten stand in Einklang mit der jüdisch-israelischen Volksmeinung: Zwei Drittel wollen Terrorverdächtige auch dann getötet sehen, wenn sie keine Gefahr darstellen.
Mit der prinzipiellen Möglichkeit zum Töten ist die Möglichkeit zum Foltern verwandt. Zwar ist das Folterverbot absolut, es gibt also keinen Notfall, der Folter rechtfertigt, doch hat der War on Terror auch hier Schneisen geschlagen. Als die CIA muslimische Häftlinge in geheime Verhör- und Folterzentren verschleppte, assistierten dabei mindestens fünf Länder Europas. Die Fotos aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib mobilisierten zwar ein weltweites Unbehagen, aber dass die USA nach 2001 Folter als systematisches Werkzeug einführten, würde sich nie wieder einfangen lassen. Es war die Aktualisierung einer Praxis, die von westlichen Demokratien zuletzt aus dem französischen Algerienkrieg bekannt war.
In Israel wurde der Militärstützpunkt Sde Teiman in der Negev-Wüste nach dem 7. Oktober „binnen Wochen zu einem Folterzentrum“, so der Befund der Organisation „Breaking The Silence“. Zu den Wärtern palästinensischer Gefangener zählten Reservisten aus militanten Siedlergruppen. Das entmenschlichende Sprechen über Palästinenser ganz oben in Staat und Armee wirkte wie ein Blankoscheck auf die unteren Ränge.
In Bezug auf Syrien unter Hafis und Baschar Assad, wo ein so hoher Prozentsatz der Bevölkerung gefoltert wurde wie vermutlich nirgendwo sonst, beschrieb Yassin al-Haj Saleh Folter als „eine politische Beziehung“, mit der ein Staat auf die gesamte Bevölkerung einwirke. Unter anderen Umständen mag für den israelischen Besatzungsstaat Ähnliches gelten: Die Folter, zumal die sexualisierte, soll das palästinensische Männlichkeitsbewusstsein brechen. Sie wirkt auf alle.
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