Vietdeutsche in Berlin: Ein Leben für die Blumen
Unsere Autorin hat als Kind viel Zeit im Blumenladen ihrer Eltern verbracht. Über vietdeutsches Leben und das harte Geschäft mit schönen Blumen.
N achricht von Mama, Anfang Dezember: „Schönen guten Morgen, con gái. Ich wünsche dir einen schönen Tag. Wenn was ist, ruf mich an. Ich hab dich lieb.“
Wenn meine Mutter mir so was schreibt, ist sie meistens im Blumenladen. Ich habe dann immer vor Augen, wie sie auf dem umgedrehten Blumenkübel sitzt und das Handy weit von sich weghält, um etwas auf dem Bildschirm zu erkennen. Sie trägt eine Schürze. Ihre Haare sind lockig, seit ich denken kann. Dauerwelle, gefärbt, an den Seiten ein paar graue Stellen.
So kenne ich meine Mutter. Immer im Laden und immer am Arbeiten.
Ihr Blumenladen in Berlin-Friedrichshain ist nicht sehr groß. Innen stehen links die gebundenen Sträuße, rechts die losen Blumen. Hinten, im Lagerraum, stehen stapelweise Übertöpfe und ein Sofa, auf dem meine Mutter sich manchmal ausruht. Draußen sind zwei große Wagen voller Pflanzen. Normalerweise. Seit Mitte Dezember, seit dem zweiten Coronalockdown, muss der Laden geschlossen bleiben.
Wie viele andere Vietnames:innen kam meine Mutter als Vertragsarbeiterin in die DDR. 1987 war das. Da war sie 31 und ich noch nicht geboren. Im volkseigenen Betrieb Goldpunkt, einer Schuhfabrik in Ostberlin, arbeitete sie als Näherin. Es gibt sogar einen Zeitungsartikel aus der B.Z., auf dem Foto sieht man sie und ihre Meisterin. Meine Mutter trägt eine Pünktchenschürze und lächelt.
„Hier verderben die Blumen nicht“
Nach der Wende verloren viele Vietnames:innen ihre Anstellung und fanden keine neue. Sie machten sich selbstständig. Manche verkauften Kleidung, andere eröffneten ein Restaurant. Meine Eltern wurden Blumenhändler:innen. Ich habe mich schon immer gefragt, warum sie sich genau für diesen Beruf entschieden haben. An einem Abend, Mitte Dezember, sitze ich mit meiner Mutter im Wohnzimmer auf der großen, dunkelroten Couch und frage nach.
Mama: „Wir waren arbeitslos. Hien, der Freund deines Vaters, hat Blumen verkauft und erzählt, dass es funktioniert. Was mache ich mit den verdorbenen Blumen?, habe ich ihn gefragt. Er sagte, die verderben nicht. Hier sei es ja nicht so heiß wie in Vietnam.“
Meine Eltern lernten sich Anfang der 1990er Jahre bei einem gemeinsamen Freund in Berlin kennen. Papa sei sehr witzig gewesen, sagt meine Mutter. Er konnte schon immer gut Geschichten erzählen. Auch er war vor der Wende Vertragsarbeiter gewesen, Werkzeugmacher. Er wollte sich damals etwas zu seinem knappen Gehalt dazuverdienen. Deshalb arbeitete er nebenbei für eine Spielzeugfabrik, wo er auch Froschluftballons aufblies. Das fanden seine Kollegen so witzig, dass sie ihn Tuấn Cóc nannten. Cóc bedeutet so viel wie Kröte. Den Spitznamen hat er bis heute.
Meinen Vater treffe ich an der Spree. Wir gehen spazieren, setzen uns in die Sonne, reden. Auch von ihm will ich wissen, wie es dazu kam, dass er ausgerechnet mit Blumen sein Geld verdient.
Papa: „Als ich arbeitslos wurde, musste ich es versuchen. Wenn man leben will, muss man Arbeit finden. Andere haben Blumen verkauft, da hab ich eben auch Blumen verkauft. Da braucht man nicht viel Startkapital. Für einen Imbiss oder ein Geschäft schon ein paar Tausend Euro. Für Blumen nur ein paar Hundert.“
Arbeiten, schlafen – und wieder von vorn
In Vietnam sind Blumen eine wichtige Sache. Meine Verwandten unterhalten sich gern darüber, wie schön groß die Blätter sind, wie leuchtend die Blüten. So schön, dass man kaum glaubt, dass sie echt sind. Auf Fotos steht meine Familie lieber vor einem Blumenbeet als vor Sehenswürdigkeiten.
Etwa ein Jahr nach meiner Geburt, also 1994, fingen meine Eltern an, Blumen zu verkaufen. Sie brauchten kein Hygienekonzept und keine teure Ausstattung wie für ein Restaurant, keinen Meisterbrief wie für einen Handwerksbetrieb. Sie hatten Glück und bekamen einen Stand bei Kaufland. Es lief gut. Weil meine Eltern nur ein kleines Auto hatten, kauften sie wenig Ware. Abends war immer alles ausverkauft. Es gab Mitarbeiter:innen aus den umliegenden Büros, die täglich Blumen kauften. Dazu kamen die Kund:innen von Kaufland. Irgendwann hatten meine Eltern genug gespart, um den Laden in Friedrichshain zu mieten.
Auf mich passte zu der Zeit meine Tante auf, dann taten es Freunde meiner Eltern, bis ich mit drei oder vier Jahren in den Kindergarten gehen konnte.
26 Jahre ist es nun her, dass meine Eltern in den Blumenhandel einstiegen. Seitdem haben sie nie etwas anderes gemacht. Nachts Blumen geholt, mich morgens zur Schule gebracht, Ware ausgeräumt, Blumen gebunden, Pflanzen gegossen, eingeräumt, verkauft. Abends machte mein Vater die Abrechnung, meine Mutter das Essen. Dann schlafen und das Ganze wieder von vorn.
„Die Kunden haben dir ein oder zwei Euro geschenkt“
„Als ich klein war, verbrachte ich viel Zeit im Laden. Viele Kund:innen fragten mich, ob ich den Blumenladen meiner Eltern später mal übernehmen möchte. Es sei doch so schön, jeden Tag mit frischen Blumen zu arbeiten! Ich lächelte und dachte: Die haben keine Ahnung. Schon damals hatte ich erkannt: Meine Eltern arbeiteten sich kaputt. Für mich hatten sie in der Regel keine Zeit. Oder sie waren einfach zu müde, um nach der Arbeit noch etwas mit mir zu unternehmen. Im Kino schlief mein Vater einmal ein und schnarchte laut. Das war so peinlich, dass wir es nie wieder probiert haben.
Papa: „Ich habe dir im Laden ein Hochbett gebaut. Dort hast du als Kind viel Zeit verbracht. Die Kunden haben dich gesehen und dir auch mal ein oder zwei Euro geschenkt. Du hast auf dem Hochbett geschlafen oder gespielt.“
Ich weiß noch, wie ich als Kind kleine Sträuße band und stolz war, wenn sie jemand kaufte. Mit meinem Vater experimentierte ich, wir banden Bambus zu geometrischen Figuren und sagten, das sei modern. Manchmal saß ich an der Kasse und führte Strichlisten. Für jeden abkassierten Kunden bekam ich ein paar Cent. Die Hausaufgaben machte ich auf dem Hochbett, meine Freunde traf ich auf dem Spielplatz im Hinterhof. Oft musste ich mich aber allein beschäftigen.
Mama: „Wenn du nicht im Laden warst, warst du im Hort. In den Ferien, an Ostern oder an Weihnachten – immer im Hort. Nicht zu Hause. An Heiligabend hast du mal angerufen und gefragt, wo wir bleiben. Es war sehr schwer. Dein Vater sagte: Komm, wir schmeißen alles hin! Wir verkaufen nicht mehr. Aber wir mussten ja die Sträuße für den nächsten Tag vorbereiten.“
Als mir meine Mutter das erzählt, kommen mir die Tränen. Ich habe mich früh dran gewöhnt, allein zu sein und für mich selbst zu sorgen. Am Wochenende schaute ich den ganzen Tag Kochsendungen von Jamie Oliver und bereitete meinen Eltern abends meine Variante von Risotto zu – Reissuppe mit Tiefkühlerbsen aus dem Reiskocher. Jetzt weiß ich, wie traurig es meine Mutter machte, keine Zeit mit mir verbringen zu können. Ich verstehe, dass sie mich heute jeden Tag anruft und fragt, was ich mache, ob ich schon gegessen habe. Sie will Teil meines Lebens sein.
„Ich erkenne alle wieder“
2005 trennten sich meine Eltern, da war ich 12. Mein Vater zog aus und behielt den Blumenladen, meine Mutter die Wohnung und mich. Sie suchte sich einen neuen Laden. Und fand zum Glück einen im selben Viertel.
Mama: „Ich bin sehr freundlich zu meinen Kunden. Erstens verkaufe ich nicht teuer und zweitens schenke ich den Kindern was. Was Süßes oder eine abgebrochene Blume. Früher waren die Knirpse so klein, jetzt kommen sie schon zusammen mit ihren Freundinnen und kaufen ihnen Rosen. Ich erkenne sie alle wieder.“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Aber auch mit Stammkunden und viel Charme läuft es nicht mehr so gut wie im alten Laden.
Mama: „Luftlinie ist es noch nicht einmal ein Kilometer, aber im alten Laden verdiente man mehr. Die älteren Leute dort hatten gute Jobs in der DDR und kriegen jetzt eine gute Rente. Hier, wo ich jetzt verkaufe, sind die Menschen ärmer. Hier wohnen nur junge Leute, Migranten oder Sozialhilfeempfänger.“
Corona macht die ganze Sache nicht besser. Hochzeiten fielen aus, Hotels mussten schließen.
Mama: „Zu Weihnachten habe ich letztes Jahr gut verdient. Das Hotel hier in der Nähe hat normalerweise 100 Euro pro Woche eingebracht.“
„Um 4 Uhr morgens werde ich unruhig“
Es ist 18:30 Uhr, an einem der letzten Tage, bevor der Laden wegen des Lockdowns schließen muss. Die Sonne ist längst untergegangen. Die Bauarbeiter trinken ihr Feierabendbier vor dem Späti nebenan. Meine Mutter räumt ihre Ware ein. Die Adventskränze und Gestecke müssen einzeln getragen werden, sonst gehen sie kaputt. Am Schluss legt sie eine Holzrampe auf die Ladentreppe und schiebt den schweren Wagen voller Pflanzen hinein. Manchmal hilft ihr dabei jemand, ein:e Passant:in. Ansonsten fragt sie den Pizzabäcker von nebenan.
Meine Mutter schließt die Tür, zieht ihre Kapuze auf und steigt auf ihr Fahrrad. In wenigen Minuten ist sie zu Hause. Sie kocht, Reis und gebratenes Gemüse, und schaut auf Youtube eine vietnamesische Quizshow an, bei der die Teilnehmer:innen eine Menge Geld verdienen können.
Morgen muss sie wieder früh raus, Ware kaufen auf dem Großmarkt. Dafür bestellt sie das Gröbste schon mal vor. Ich höre sie am Telefon auf Vietnamesisch sprechen: „200 Tulpen. Und wenn es preiswerte Asthromelien gibt, auch ein, zwei Kübel davon.“ Gegen 21 Uhr ist sie im Bett.
Um 5 Uhr klingelt mein Wecker. Heute will ich sie begleiten, zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren. Als ich in ihr Zimmer komme, liegt sie angezogen auf dem Bett und wartet. „Seit wann bist du wach?“, frage ich. „Seit 4 Uhr. Dann werd’ ich immer unruhig.“
Zum Großmarkt geht meine Mutter in der Regel dienstags, donnerstags und samstags. Als ich klein war, standen meine Eltern schon gegen zwei Uhr auf, um dorthin zu fahren. Auf der Autofahrt erzählt meine Mutter, dass sie damals mehrere Großmärkte abgefahren sind, auf der Suche nach dem besten Angebot.
Der Blumengroßhandel befindet sich im Industriegebiet Lichtenberg – nicht weit von dem vietnamesischen Đồng Xuân Center. Meine Mutter parkt das Auto und schnappt sich einen Wagen. Zusammen gehen wir durch einen dicken Plastikvorhang und gelangen in eine große Halle mit verschiedenen Händler:innen: deutsch, türkisch, vietnamesisch.
Wir biegen beim Vietnamesen ein. Hier hat sie vorbestellt. Sauber aufgereiht stehen kübelweise Schnittblumen da: Chrysanthemen, Rosen – und Schleierkraut. Meine Mutter streift durch die Reihen und schaut sich alles genau an. Ihre Auswahl legt sie auf den Wagen, sie bedankt sich und zahlt.
„Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“
Deutsche Florist:innen sehe ich hier keine. Vor allem sind es Vietnames:innen, die sich gegenseitig grüßen. Alle sind beschäftigt, aber nehmen sich Zeit für Smalltalk. Sie fragen, ob ich die Tochter bin, wie alt ich bin, ob ich schon arbeite.
Bei meinem letzten Besuch war das anders, es war sehr viel hektischer. Während ich noch aus dem Auto stieg, rannte meine Mutter schon in den Markt. So schnell wie damals hatte ich sie nie erlebt.
Xuân Đào Trần, die Mutter unserer Autorin
Jeder kämpfte da drin für sich. Einmal fehlten in unserem Wagen plötzlich mehrere Sträuße, obwohl ich direkt daneben stand. Ich fühlte mich schlecht und konnte es nicht fassen. Warum waren hier alle so unkollegial?
In einer ZDF-Reportage aus dem Jahr 2013 sieht man, wie ein Großhändler ein Video in die Kamera zeigt: der Markt macht morgens auf, zig Vietnamesen stürmen los.
Der Reporter fragt den Großhändler: „Gibt’s da was umsonst in der ersten Stunde?“
Der Großhändler: „Nein, nur die guten Sachen.“
Reporter: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“
Pfirsichblüte und Kirschblüte
Bevor meine Mutter und ich nach Hause fahren, tragen wir den Einkauf in den Laden. Wieder schleppen. Die Schnittblumen stellen wir in Wasserkübel, die Pflanzen nicht so nah an die Heizung. Erst gegen halb 7 Uhr morgens sind wir zu Hause. Mir tut der Rücken weh. Ich bin hundemüde und falle ins Bett. Meine Mutter bleibt wach und telefoniert mit ihren Geschwistern in Hanoi, bevor sie um 8 Uhr den Laden öffnet.
Meine Mutter heißt übrigens Đào. Das bedeutet Pfirsich. Ich habe mich immer gefragt, warum sie ihren Blumenladen nicht so nennt: Pfirsichblüte. Wie schön das wäre. Ein Blumenladen in derselben Straße hieß nämlich Kirschblüte. Dort gab es sehr schöne Sträuße und Gestecke. Alles im Laden passte zueinander, es sah aus wie in einem Waldmärchen-Katalog. Nur leider musste er schließen. Ein weiterer vietnamesischer Blumenladen machte auf, und zwischen zwei günstigen konnte sich der teure nicht halten.
In einem Artikel der Berliner Zeitung von Februar 2019 beklagen sich deutsche Florist:innen über die zunehmende Konkurrenz aus Vietnam. Einer sagt: „Wie die die Preise machen, weiß ich nicht. Teilweise liegen sie unter den Einkaufspreisen.“
Eine Rose kostet bei meiner Mutter 1,50 Euro. Andere verlangen dafür 1 Euro mehr. Im Großmarkt kostet die Rose etwa 80 Cent. Nicht ganz Einkaufspreis, aber auch nicht sehr viel Gewinn. Ich habe meiner Mutter immer wieder gesagt, dass sie die Preise erhöhen soll. Sie steht nachts auf, arbeitet den ganzen Tag und traut sich nicht, etwas dafür zu verlangen. Mich frustriert das. Sie aber sagt, die Leute würden sonst nicht bei ihr kaufen.
Papa: „Zu viele verkaufen heute Blumen. Bei Lidl gibt es welche, auf dem Friedhof, und es gibt noch einen vietnamesischen Blumenladen um die Ecke.“
Dass die Konkurrenz gewachsen ist, fällt nicht nur meinen Eltern auf. In einem Fernsehbeitrag des RBB aus dem Jahr 2018 ist ein Streit zu sehen, deutsche gegen vietnamesische Blumenhändler:innen. Es wird deutlich, dass die Vietnames:innen nicht gern gesehen sind. Früher war alles besser, dann kamen die Vietnamesen, heißt es.
Der Sprecher: „Tatsache ist, vietnamesische Blumenhändler dominieren den Markt. Drängen seit Jahren in das Geschäft der traditionellen Floristen. Gelernt haben sie das Handwerk nicht. […] Als Billigkonkurrenten sind sie vielen ein Dorn im Auge, wie der Friedhofsgärtnerin Heike.“
Heike: „Man muss hier wirklich kämpfen. […] Das ist nur noch mit den ganzen Fidschis!“
Ein illegaler Touch
Dieser Beitrag bereitet mir Bauchschmerzen. Regen sich Sterneköche auch so über Pommesbuden auf? Statt nach Gründen zu suchen, warum es so viele Vietnames:innen im Billigblumengeschäft gibt, wird über sie gesprochen, als seien sie Eindringlinge. Die Vietnames:innen selbst kommen kaum zu Wort.
Eine vietnamesische Frau erklärt zum Beispiel, dass Vietnames:innen ihr Wissen rund um Pflanzen und Blumen aus der Heimat mitbringen. Obwohl ihr Deutsch gut verständlich ist, übertönt eine deutsche Synchronstimme ihre Worte.
Die Frau sagt: „Meine Heimat ist ein Agrarland. Schon als Kind lernten wir die Blumen kennen – auch wie man sie schneidet. Dieses Wissen benutzen wir jetzt.“
Das Tauschen der Ware unter vietnamesischen Kolleg:innen bekommt durch die Wortwahl des Reporters einen illegalen Touch.
Reporter: „In Massen rollt die Ware auf den Parkplatz. Hier gehen die Geschäfte ganz offensichtlich weiter. Nachfragen sind unerwünscht. […] Drinnen haben sie das Beste längst abgeräumt. Keine Stunde nach Marktbeginn.“
„Die arbeiten Tag und Nacht, die Leute“
Die Ausbildung zur Floristin dauert bis zu drei Jahre und erfordert gute Deutschkenntnisse. Sich sofort selbstständig zu machen war nach der Wende für viele Vietnames:innen aber die einzige Möglichkeit, ihr Leben zu finanzieren und eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten.
Ich verstehe, dass die Konkurrenz bedrohlich sein kann. Aber den rassistischen Unterton sollte man sich sparen. Eine Frau im RBB-Beitrag sieht das zum Glück ähnlich: „Das sind fleißige Leute. Da kann sich manch Deutscher eine Scheibe von abschneiden. Wir haben sicher sehr gute deutsche Floristen. Aber die arbeiten Tag und Nacht, die Leute.“
Die meisten Vietnames:innen sind bereit, ihre Ware für wenig Geld zu verkaufen. Genauso wie polnische Spargelstecher:innen für ihre Arbeit schlechter bezahlt werden als Deutsche. Sie machen das nicht, um anderen zu schaden, sondern schaden sich selbst, weil sie keine andere Möglichkeit sehen. Der Unterschied ist: Deutschen gefällt das Blumengeschäft, noch. Es ist ein schöner Beruf, weil man kreativ sein kann und mit frischen Blumen hantiert. Hätte noch jemand ein Problem mit den Vietnames:innen, die sich selbst ausbeuten, wenn es ein weniger romantischer Beruf wäre?
Ich frage meine Mutter, ob sie auch solche Erfahrungen mit Deutschen gemacht und Rassismus erlebt habe. Bisher hat sie nie davon erzählt.
Mama: „Es gab sogar Leute, die haben sich im Laden geprügelt. Entweder wollten sie die Ware umtauschen. Oder sie haben gesagt, dass wir Ärger machen oder nur das schnelle Geld wollen. Es sind ja nicht alle Menschen gut!“
Dass es immer mehr vietnamesische Blumenhändler:innen und immer weniger deutsche zu geben scheint, ist auch mir aufgefallen. Auf der Suche nach deutschen Florist:innen in Berlin finde ich ein paar in Prenzlauer Berg. Wahrscheinlich konnten sie sich halten, weil sie besonders sind. Auf dem Arkonaplatz bietet eine Floristin zwischen Obst- und Gemüseständen Blumen an, die selbst ich, das Kind einer Blumenhändlerin, noch nie gesehen habe.
Deutsche finden vietnamesische Blumenläden oft kitschig. Vor allem die knalligen Farben, die die Händler:innen in Blumensträußen zusammenstecken. Lila, Rosa, Gelb. Meine Mutter benutzt für Adventskränze viel Rot und Gold. Rot steht in Vietnam für Macht und Erfolg – und kommt meist in Verbindung mit Gelb vor, der Farbe des Kaisers; sie steht für Ruhm und Weisheit. Rosa Blumen erinnern an die Lotusblume, die Nationalblume Vietnams. Sie erwächst aus dem Schlamm, aber ihre Blätter verschmutzen nie.
Von anderen Blumenläden abgeschaut
Als Teenagerin fand ich auch, dass meine Mutter einfach keinen Geschmack hat. Heute machen wir darüber Witze. „Machst du schon wieder Omasträuße?“, ärgere ich sie. Klar, sie sei ja schon alt, sagt sie dann. Sie fragt mich gern nach meiner Meinung. Manche Sträuße finde ich noch immer ein bisschen kitschig, aber peinlich finde ich sie nicht mehr.
Mama: „Am Anfang habe ich die Blumen einfach irgendwie kombiniert, dann habe ich mir von anderen Blumenläden abgeschaut, wie man Blumen bindet. Und dann hatte ich eigene Ideen oder habe es nach den Wünschen der Kunden gemacht.“
Mein Vater blieb dagegen lieber bei den Zimmerpflanzen.
Papa: „Es gibt Pflegezettel. Die liest man sich durch, und wenn die Kunden fragen, muss man ihnen erklären, wie man die Pflanzen gießt, wie viel Licht sie brauchen. Auch bei den Pflanzennamen war es so. Ich habe die Zettel gelesen und mir die Namen gemerkt.“
Ich will meinen Vater testen und frage nach der Pflegeanleitung für Elefantenfuß. „Das ist einfach!“, sagt er und legt los. Mein Vater steht mittlerweile nicht mehr täglich im Blumenladen, weil er vor einigen Jahren einen Herzinfarkt hatte. Er wird ein bisschen traurig, als wir über den Blumenladen sprechen. Im Lockdown vermisst er die Arbeit und seine Kunden. Er hatte auch nie ein Problem damit, früh aufzustehen.
Rosen hassten wir
Wenn alle anderen entspannen, an Feiertagen, ist es im Blumenladen am stressigsten. Solange ich zurückdenken kann, habe ich an solchen Tagen mitgeholfen. Auch meine Cousins, die aus Vietnam zum Studieren nach Deutschland kamen, halfen mit. Wir entfernten Dornen von Rosen, schnitten Tannen oder verstärkten Kübel um Kübel Gerbera mit Draht. Natürlich hatten wir auch eine gute Zeit und machten uns über denjenigen lustig, dem gerade ein Dorn ins Gesicht gesprungen war. Rosen hassten wir alle.
Als Schülerin war ich manchmal so genervt von dem Laden, dass ich Hausaufgaben vorschob, um nicht schon wieder hinzumüssen. Wenn meine Verwandten in Vietnam fragten, ob ich meiner Mutter helfe, fühlte ich mich immer ertappt. Ich wollte mein Ding machen, mich auf meine Zukunft konzentrieren. Und das tat ich auch.
Ich bin früh ausgezogen und habe in anderen Städten studiert. Ich habe mich von meiner Mutter abgenabelt, vom Blumenladen distanziert. Und obwohl sich meine Mutter sehr gewünscht hatte, dass ich in Berlin bleibe, hielt sie mir das nie vor. Mittlerweile ist sie froh, dass ich meinen Weg gegangen bin. Und ich bin nach dem Studium vorübergehend wieder bei ihr eingezogen.
Seit wir wieder mehr Zeit miteinander verbringen, merke ich: Meine Mutter wird langsam müde. Seit ein paar Jahren hat sie eine Aushilfe, nimmt sie sich sonntags auch mal frei – und fährt dann doch wieder zum Großmarkt; der hat auch sonntags geöffnet.
„Zwei Paar Hosen, zwei Paar Socken“
Sie sagt, sie gehe erst in Rente, wenn ich einen festen Job habe, auf eigenen Beinen stehe. Und ich versuche, ab und zu für sie abends die Pflanzen einzuräumen oder ihr etwas zu essen vorbeizubringen.
Mama: „Blumen verkaufen ist sehr anstrengend. Es ist immer kalt. Im Laden kann man die Heizung nicht anmachen wegen der Blumen. Manchmal habe ich sechs Oberteile an! Zwei paar Socken, zwei paar Hosen.“
Auch die Hände tun ihr weh. Verhärtet hätten sie sich, sagt sie. Sie hat immer Schnittwunden oder einen Dorn im Finger.
Mama: „Wenn ich früher deinen Rücken gestreichelt habe, hast du immer gesagt: An deinen Händen sind Nadeln!“
Das ist ihre Lieblingsgeschichte. Mittlerweile sind ihre Hände nicht mehr ganz so rau, ich habe sie überredet, öfter Handschuhe zu tragen.
Während des Lockdowns hält es meine Mutter kaum aus zu Hause. Manchmal kommt sie in mein Zimmer, während ich gerade in einem Zoom-Meeting sitze, gießt meine Pflanzen oder zwackt die vertrockneten Blätter ab. Sie weiß nicht, was sie mit sich anfangen soll. Und so nehme ich sie mit auf meine langen Spaziergänge. „Ein Glück, dass du wieder zu Hause bist“, sagt sie dann. „Ohne dich würde ich wahnsinnig werden.“
Manchmal scherzt sie: „Willst du den Laden nicht übernehmen?“ Für mich kommt das nicht infrage. Würde sie sich das wirklich wünschen? Sie findet, mein Job als Journalistin sei hart. Immer klebe ich vor dem Bildschirm, das mache doch Kopfschmerzen. Ich aber weiß: Ich kann so viel schreiben, wie ich will, so hart wie im Blumenladen wird es bestimmt nicht.
Linh Tran ist Autorin der taz am wochenende. Die Geschichte ihrer Mutter gibt es auch zum Hören, als eine Folge des Podcasts „Rice and Shine“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen