Vielfalt in Deutschland: Imperiale Nostalgie

Vom schwierigen Umgang weißer Männer mit den postkolonialen Realitäten im heutigen Deutschland.

Illustration - jemand tauscht ein Straßenschild aus

Illustration: Katja Gendikova

Gleich zu Beginn der Sitzung war es wieder so weit: Ein gestandener Professor verkündete mit betont ironischem Unterton, dass er sich freue, hier als weißer, alter Mann noch mitreden zu dürfen. Zustimmung heischend schaute er in die Runde – und tatsächlich quälten sich einige der anwesenden Kolleginnen ein strategisches Lächeln ab. Denn in dem Meeting ging es um die Förderung von Diversität an der Universität.

Und wie so oft hielten wir es deshalb für ratsam, im Dienste der guten Sache trotz solcher eigentlich inakzeptabler Äußerungen stillzuhalten. Ich weiß nicht, wie häufig ich Varianten dieses Witzes, der gar nicht witzig ist, in den letzten Jahren gehört habe. Immer schwingt dabei die Überzeugung mit, dass es irgendwie unverständlich oder sogar ungehörig sei zu verlangen, dass man sich selbstkritisch mit strukturellen Privilegien, die ein tief in der Gesellschaft verwurzelter Rassismus und Sexismus so mit sich bringen, auseinandersetzen solle.

Das sehen Menschen, die im Visier dieser Diskriminierungen stehen, gemeinhin anders: Frauen* und Queers; Personen, die als nicht (ganz) weiß gelten und Menschen, die mit anderen, jenseits des europäischen Westens imaginierten Religionen und Kulturen assoziiert werden.

Gerade aus ihrer Perspektive zeigt sich deutlich, wie berechtigt es ist, auch mal die Haltung derjenigen kritisch zu betrachten, die sich in einer wie selbstverständlich privilegierten, scheinbar eindeutigen Position wähnen und von dort aus kopfschüttelnd über den als „Identitätspolitik“ kleingeredeten Widerstand der Anderen urteilen. Dass diese Privilegien heute tatsächlich herausgefordert werden, ist unübersehbar.

Prozesse einer Dekolonisierung alter Machtverhältnisse, die nicht nur weit weg, sondern auch vor der eigenen Haustür spürbar werden, sind manchen Grund genug, sich in ihren vermeintlich angestammten Vorrechten angegriffen zu fühlen. Formen der Selbstviktimisierung, der Stilisierung als nun selbst von Kolonisierung durch fremde Religionen, Kulturen und Geschlechter Betroffene, wurden zwar von der AfD und anderen in den Diskurs eingeführt, heute sind solche Positionen aber längst gängiger Stoff für Diskussionen im gesellschaftlichen Alltag bis in die Seiten der großen Zeitungen.

„Umgekehrter Rassismus“ als Kampfansage

Eine imperiale Nostalgie greift um sich, die offen oder verdeckt der Dominanzkultur einer kolonialen Moderne nachtrauert. Besonders eklatant zeigt sich die zunehmende Aggressivität weißer Selbstüberhöhung in Angriffen auf Wissenschaftler*innen, die zu Rassismus forschen. So geschehen etwa mit Maisha Maureen Auma oder Yasemin Shooman, zwei weithin anerkannten Kolleginnen auf diesem Gebiet.

Auma, Professorin für Kindheit und Differenz an der Hochschule Stendal, hatte in einem Interview beklagt, dass Universitäten weitgehend weiße Institutionen seien und die Zusammensetzung des wissenschaftlichen Personals an Hochschulen die postmigrantische Realität nicht im Mindesten abbildeten. Daraufhin bezichtigte der kulturpolitische Sprecher der AfD-Landtagsfraktion in Sachsen-Anhalt Auma eines „Rassismus gegen Weiße“.

Yasemin Shooman, frühere Leiterin der Akademie des Jüdischen Museums und heutige Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), wurde wiederum der Verharmlosung eines solchen „Anti-Weißen-Rassismus“ beschuldigt. In einem Artikel wird Shooman implizit vorgeworfen, sie verteidige Angriffe auf Deutsche.

Der Autor Alan Posener bezieht sich auf einen Debattenbeitrag Shoomans für die Bundeszentrale für politische Bildung, in dem sie „deutschenfeindliche“ Beleidigungen zwar kritisierte, diese jedoch nicht als Form eines gesellschaftlich verankerten Rassismus gelten ließ – eine Einschätzung, die eine etablierte Position innerhalb der Rassismusforschung widerspiegelt.

Interessant ist, dass der Vorwurf der Deutschenfeindlichkeit vor allem an Mus­li­m*in­nen adressiert und gegen diese in Stellung gebracht wird. Der von Posener pauschal an Shooman festgemachte Vorwurf, wer immer sich mit antimuslimischem Rassismus beschäftige, spiele zudem den muslimischen Antisemitismus herunter, erkläre gar die Mus­li­m*in­nen zu den neuen Jü­d*in­nen und fördere die israelbezogene Judenfeindschaft, trägt zu einer geradezu demagogischen Simplifizierung der Sicht auf die Verhältnisse bei.

Es wird suggeriert, es handele sich bei diesen Auseinandersetzungen um einen Kampf, bei dem sich radikale Religionsfreiheit und islamistischer Terrorismus gegenüberstünden. Ein Kampf, in dem nur die eine auf Kosten der anderen Position eingenommen werden könne. Das ist eine pauschale, geradezu demagogische Simplifizierung der Verhältnisse, in der die Existenz von Kri­ti­ke­r*in­nen und einem moderaten Mainstream auf beiden dieser scheinbar eindeutigen Seiten unterschlagen wird.

Auch in Frankreich nimmt der Diskurs polarisierende Züge an, wenn etwa Präsident Emmanuel Macron nach dem islamistisch motivierten Anschlag auf den Lehrer Samuel Paty ganz unverhohlen eine „linke“, rassismuskritische Universitätskultur beschuldigte, den Hass auf „Weiße“ und „Frankreich“ zu befördern. Solcher Hass wird implizit generalisierend ‚den‘ Mus­li­m*in­nen unterstellt. Ebenso implizit und generalisierend wird ‚die‘ nicht-muslimische Gegenseite als säkular und tolerant imaginiert.

Gewaltgeschichten sind verflochten

Das ist eine Neuauflage kolonialrassistischer Fremd- und Selbstbilder, die ebenso pauschalisierende Gegenwehr provoziert und damit die existierenden Spielräume eines möglichen Dialogs immer weiter verkleinert. Vor diesem Hintergrund sind differenzierende Stimmen wie die von Yasemin Shooman unverzichtbar. Ihre Berufung in den Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit durch Innenminister Seehofer ist ein Zeichen, sich endlich auch mit den gegen Mus­li­m*in­nen gerichteten Ressentiments aus fundierter wissenschaftlicher Perspektive zu befassen.

Die reflexartig vorgebrachten Vorwürfe aus konservativen und rechten Kreisen, wonach es hier eine Schieflage in die andere Richtung gebe, nämlich zu wenig auf Kri­ti­ke­r*in­nen des Islamismus zu hören, sind ungerechtfertigt. Das Gegenteil ist der Fall, wie wir seit den gefühlt ewig verschleppten und einseitig verzerrten Ermittlungen zu den terroristischen Anschlägen des NSU wissen. Die Welle der gegen Mus­li­m*in­nen gerichteten Gewalttaten reißt indes keineswegs ab.

Das haben nicht zuletzt die Morde von Hanau deutlich gemacht. Kampagnen wie die gegen Yasemin Shooman tragen nur dazu bei, die diversen Formen extremistischer Gewalt und Rassismus gegeneinander auszuspielen – ohne die Verflechtungen dazwischen in den Blick zu nehmen.

Gerade jetzt, wo im Zuge des wiederaufgeflammten Israel-Palästina-Konflikts die Grenze zwischen Antisemitismus und Kritik an der israelischen Regierung in den Protesten vielfach verwischt und überschritten wird, spitzen sich die Attacken auf Kri­ti­ke­r*in­nen eines antimuslimischen Rassismus weiter zu. So zeigt der jüngste Fall der Journalistin Nemi El-Hassan, dass es immer schwieriger wird, sich in dieser politisch verminten Zone zu bewegen, ohne damit die eigene Karriere in der deutschen Medienlandschaft aufs Spiel zu setzen.

El-Hassan wurde vorgeworfen, 2014 durch ihre Teilnahme an einem Al-Kuds-Marsch die antizionistischen Positionen dieses Protests unterstützt zu haben. Davon hat sich die Journalistin längst selbstkritisch distanziert. Dennoch soll sie laut WDR-Intendant Tom Buhrow die Sendung „Quarks“ nicht, wie zugesagt, moderieren – allenfalls könne sie als Autorin hinter den Kulissen beschäftigt werden.

Dabei gehe es nun gar nicht mehr um den ursprünglichen Vorwurf der Demoteilnahme, sondern nur noch um problematische Likes aus jüngster Zeit, so Buhrows vage Begründung für die Suspendierung El-Hassans. Die Journalistin wurde durch eine Kampagne der Bild-Zeitung in Verruf gebracht, die auf Recherchen eines AfD-nahen Youtubers zurückgehen. Es ist längst gängige Praxis, Interventionen aus dem rechten Milieu gegen unliebsame Kri­ti­ke­r*in­nen bereitwillig auch im liberalen Mainstream aufzugreifen und sie in einer Art vorauseilendem Gehorsam zu exekutieren.

Eine auf Vielfalt, Ausgewogenheit und auf Vermittlung ausgerichtete mediale Praxis sieht anders aus. Angesichts einer immer weiter zementierten Polarisierung der Positionen auch in unserer Gesellschaft braucht es keine weitere Verschärfung von Feindbildern. Damit entfernen wir uns nur noch weiter von einem notwendigen Verständnis der hochkomplexen postnationalsozialistischen und postkolonialen Realitäten, die heute den Alltag in Deutschland und Europa bestimmen.

Kritische Stimmen wie Aimé Césaire oder Hannah Arendt haben sich schon früh dafür eingesetzt, die von Deutschland und Europa ausgehenden Gewaltgeschichten in ihrer Interdependenz, in ihrer gegenseitigen Ermöglichung zu betrachten und von diesen Verstrickungen für eine andere Zukunft zu lernen. So gilt es, die vielschichtigen Relationen zwischen der Massenvernichtung des NS-Regimes und der Gewalt des Kolonialismus sowie deren Nachwirkungen auf die heutigen Gesellschaften und ihre Krisen und Kriege stärker in den Blick zu nehmen.

Wer sich dem anschließt, etwa im Sinne des Konzepts einer „multi-direktionalen Erinnerung“, wie sie der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg vertritt, gerät schnell ins Visier einer vehement auf die Unvergleichbarkeit genozidaler Gewalterfahrungen setzenden Diskussion. Diese Position, die langfristige Verflechtungen und Nachwirkungen von Antisemitismus, Antiziganismus, antimuslimischem Rassismus und Kolonialismus nicht anerkennen will, ist den heutigen Verhältnissen jedoch kaum angemessen.

Das gilt ganz besonders für ein durch Migrationen geprägtes Europa, in dem sich die Nachfahren dieser ungleich geteilten Geschichten heute Tür an Tür begegnen. Die zunehmende Gewaltbereitschaft auf allen Seiten ist auch ein Produkt der Ignoranz, mit der wir dieser postkolonialen Textur unseres heutigen Zusammenlebens noch immer begegnen.

Selbstkritische Souveränität statt imperialer Nostalgie

Um die Spirale der von allen Seiten gegen diverse Andere gerichteten Aggressivität zu durchbrechen, sind auch die weißen Eu­ro­päe­r*in­nen heute gefordert, sich neu in einer postkolonialen, multipolaren Welt zu orientieren. Das ist keine Frage des guten Willens, sondern eine Notwendigkeit: wir haben keine andere Welt als diese. Die neuen Realitäten sind nicht zuletzt den kolonialen Vorgeschichten der modernen Ausbeutung globaler Naturen und Gesellschaften, vor allem außerhalb der westlichen Welt, geschuldet.

Es geht also auch darum, dafür Verantwortung zu übernehmen und sich anderen, kritischen Positionen zu öffnen – und zwar durchaus auch im eigenen Interesse, das letztlich nur auf ein gemeinsames (Über-)Leben gerichtet sein kann. Auf dem Weg dahin ist dann allerdings Verzicht gefordert: auf scheinbar selbstverständliche Deutungshoheiten zugunsten eines offenen Dialogs, der selbstkritisch sein muss.

Wie schwer das fällt, sehen wir nicht nur an den erhitzten Raubkunstdebatten und den anhaltenden Schwierigkeiten mit der Rückgabe menschlicher Überreste, die von der Gewalt kolonialer Genozide und einer „rassekundlich“ forschenden NS-Wissenschaft zeugen. Auch Straßennamen, die an koloniale Gewalttäter erinnern oder rassistische Bezeichnungen für Schwarze Menschen tragen, scheinen vielen immer noch eine Verteidigung wert.

Die Vehemenz, mit der hier auf angestammte Rechte gepocht und eine Mitsprache anderer Beteiligter zurückgewiesen wird, wirkt angesichts der globalen Tragweite postkolonialer Herausforderungen kleinlich und borniert. Sich heute noch auf solche Privilegien zu berufen, sie zu verteidigen im Namen einer wissenschaftlichen und demokratischen Freiheit der Wenigen auf Kosten der Freiheit der Vielen, ist weder angemessen noch erfolgversprechend.

Vor allem zeugt es nicht von einem souveränen Umgang mit diesen Herausforderungen. Vielmehr artikuliert sich darin eine imperiale Nostalgie, die das Infragestellen einstiger Macht als Kränkung erfährt und dagegen alle Mittel dieser verlorenen Macht in Stellung bringt.

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ist Professorin am Institut für Europä­ische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihr Fokus liegt auf der postkolonialen Anthropologie Europas.

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