Video von Ertrinkenden im Mittelmeer: Werbespots zwischen Sterbenden
In einem Video über Flüchtende schaltet „Spiegel Online“ Werbung für die Bahn und Süßigkeiten – und findet das korrekt. Einer der Werbenden distanziert sich.
Ein Sanitäter versucht im Schlauchboot, einen Geretteten wiederzubeleben. Um ihn herum schreien Menschen. Schnitt. „Haben Sie schon eine Risikolebensversicherung?“ Das Wasser brodelt vor strampelnden Körpern, aus den Wellen ragen die Hände. Schnitt: An einem weißen Sandstrand beißt eine leicht bekleidete Frau in eine weiße Kugel. „Jetzt ein Raffaelo“.
Die Ertrinkenden sind zu weit verteilt. Eine Sanitäterin streckt sich aus dem Boot, um eine Hand zu erreichen, aber die Hand geht unter. Und sehen Sie: Ein paar Meter weiter, auf dem libyschen Schiff, da werden Gerettete ausgepeitscht. „Haben Sie Lust auf Milka?“ Eine Hand im Bild, Wellen schlagen über ihr zusammen, wieder einer tot. „Kennen Sie schon den ,Komfort Check-in' der Deutschen Bahn? Damit reist es sich bequemer.“ Während eine Crew der Sea Watch in Schlauchbooten versucht, die Menschen zu retten, zieht ein Kriegsschiff der libyschen Küstenwache mindestens 47 Ertrinkende aus dem Wasser und verprügelt sie zum Teil sofort. So sehr, dass einige wieder ins Meer springen, obwohl sie nicht schwimmen können. Etwa 20 Menschen ertrinken.
Auf Anfrage der taz, wie es zur Einbindung der Werbung kommt und ob es medienethisch vertretbar sei, sie nicht zu deaktivieren, antwortet ein Pressesprecher der Spiegel-Gruppe: „Das Video ‚Es ist Mord‘ hat uns die New York Times gemäß einer bestehenden Kooperation zur Verfügung gestellt. Diese sieht auch eine Vermarktung unsererseits vor.“ Spon hat nicht vor, die Werbung zu deaktivieren. Die Werbenden wurden nicht gefragt: Die Videos würden „standardmäßig mit Werbung versehen“.
„Mehr als unpassend“
Das Versicherungsunternehmen CosmosDirekt, dessen Clip für Risikolebensversicherungen zwischen den Sterbenden läuft, positioniert sich dagegen öffentlich: Das Nachrichtenumfeld sei „mehr als unpassend“. Leider habe man keine Garantie, um eine solche Platzierung zu verhindern. „Wir möchten uns trotzdem in aller Form dafür entschuldigen!“, twittert das Unternehmen. Auf die Entschuldigung des Unternehmens hat Spon bis zum Redaktionsschluss der taz nicht reagiert.
Die eine Frage ist, inwiefern die eingebundene Werbung medienethisch vertretbar ist, die andere, was die Platzierung für die Werbenden bedeutet. Für diese seien die Platzierungen wie im Spon-Video unvorteilhaft, sagt Georg Felser, Werbe- und Konsumentenpsychologe und Professor an der Universität Harz. „Es gibt sogenannte Kontexteffekte: Die beschreiben, dass wir eine Marke unterschiedlich wahrnehmen, abhängig davon, in welchem Zusammenhang wir ihre Werbung sehen.“
„Nehmen wir an, in irgendeinem Dreck wächst ein kümmerliches Blümchen. Das wirkt so viel duftender, als wenn es in einem prächtigen Strauß steckte. Bedeutet: Weil der Kontext negativ ist, nehmen wir es umso positiver wahr. Das nennt man Kontrasteffekt“, sagt Felser.
Im Falle des Videos rechne er aber mit dem gegenteiligen Effekt. „Unser Automatismus ist der Angleichungseffekt: Der Kontext färbt auf die Marke ab.“ Je negativer das ist, was man im vorherigen Moment gesehen hat, umso negativer nehme man die Marke wahr.
Empfohlener externer Inhalt
Effekt der Konditionierung
„Verstärkt wird das hier, weil wir Werbung ja unterstellen, uns beeinflussen zu wollen“, sagt Felser. „Sehen wir in so einem Video also einen Werbeclip, rechnen wir den Kontext der Werbung der Beeinflussungsabsicht des Unternehmens zu: ‚Dass sie ausgerechnet hier werben, wie furchtbar‘.“ Und das, so Felser, beeinflusse die Wahrnehmung der Marke auch dann negativ, wenn Werbende sich wie im Fall des Spon-Videos tatsächlich gar nicht aussuchen konnten, wo ihre Werbung läuft.
Bekannt sei auch, dass Werbung mitunter positiv empfunden werde, weil sie die ZuschauerInnen vor negativen Reizen sozusagen rette, sagt Felser. Hier sei ein ein Effekt der Konditionierung wahrscheinlicher. „Es gibt das Phänomen des Lernens mit nur einem Durchgang. Wenn uns etwas ekelt oder wehtut, lernen wir sehr schnell. Nehmen wir die Raffaelo-Werbung: Da kündigt dann die Marke sozusagen das Sterben an. Diese Assoziation einer negativen Emotion mit einer Marke kann auch unterbewusst sehr lange vorhalten.“
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