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Versteckte Armut in BerlinAngst vorm Amt

Wer Sozialhilfe empfängt, wird oft stigmatisiert. Viele Menschen nehmen das Geld deshalb gar nicht erst in Anspruch.

Nicht sehr einladend: Jobcenter in Berlin-Mitte (Negativbild) Foto: Jens Schicke/imago

Berlin taz | Seit einem halben Jahr ist Ronny Marggraf jetzt schon Bürgergeldempfänger, doch die Termine beim Amt fühlen sich für ihn immer noch unangenehm an. „Es ist komisch, wenn man da hinkommt, mit denen redet und von oben herab behandelt wird.“ Marggraf ist 41 Jahre alt und war fast ein Jahr lang wohnungslos in Berlin, bevor er vor sechs Monaten in das betreute Gruppenwohnprojekt „PlattenGruppe“ in Köpenick gezogen ist. Als Wohnungsloser sei er „als Mensch anderer Klasse“ behandelt worden, sagt er, „in jeder Hinsicht. Auch im Nachhinein.“

Mittlerweile hat Marggraf zwar eine Unterkunft und erhält Bürgergeld, doch die Vorurteile sind geblieben. Die bekomme er jetzt vor allem bei Ämtern und Behörden zu spüren: „Man wird abgestempelt und ist sofort in so einer Schublade drin: ‚Sie sind faul und trinken den ganzen Tag.‘“ Oft werde einem das Gefühl vermittelt, „dass man das Geld von denen bekommt, die mit einem reden – und nicht vom Staat“.

Die Probleme, von denen Ronny Marggraf spricht, kennen viele Menschen in Deutschland – und scheuen sich deshalb oft davor, Sozialhilfe überhaupt in Anspruch zu nehmen. Einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zufolge bezogen bis zu 56 Prozent der Anspruchsberechtigten 2019 kein Hartz IV. Als Gründe wurden häufig Scham und die Angst vor Stigmatisierung genannt. Die Gelder wurden laut DIW nicht in Anspruch genommen, um von anderen nicht schlechter behandelt zu werden und ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten.

Die Dunkelziffer der Menschen, die ihren Anspruch auf Grundsicherungs- oder Sozialhilfeleistungen aus Scham oder anderen Gründen nicht geltend machen, wird verdeckte Armut genannt. Auch in Berlin ist verdeckte Armut ein Thema – genaue Daten dazu, wie viele Menschen in der Stadt von ihr betroffen sind, gibt es jedoch nicht. Die Zahl der armutsbetroffenen Ber­li­ne­r*in­nen bezieht sich ausschließlich auf Menschen, die Sozialleistungen beziehen. Das sind derzeit 19,3 Prozent.

Viele scheuen sich davor Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen

Laut dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg liegen zumindest einige Hinweise auf ein höheres Ausmaß von verdeckter Altersarmut in Berlin und Brandenburg vor: So hätten 2020 die Armutsquoten für Menschen ab 65 Jahren in beiden Ländern über den Anteilen der Emp­fän­ge­r*in­nen von Grundsicherung im Alter gelegen.

So lange Betroffene von verdeckter Armut in Berlin nicht statistisch erfasst werden, können sie als Zielgruppe kaum berücksichtigt und erreicht werden. Im Dezember vergangenen Jahres stellte die Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus deshalb einen Antrag auf eine wissenschaftliche Studie zu Ausmaß und Ursachen verdeckter Armut in Berlin, der im März jedoch abgelehnt wurde.

Steffen Mehnert arbeitet bei der Sozialberatung der Caritas in Neukölln. Regelmäßig würden ihm Menschen in der Beratung von Stigmatisierung berichten – die sie oft beim Jobcenter erleben, sagt er. Vor Kurzem sei etwa eine junge Frau in die Beratung gekommen, die vom Voll- aufs Teilzeitstudium gewechselt sei. „Da kam vom Jobcenter sofort der Vorwurf, sie hätte ihre Hilfebedürftigkeit selbst herbeigeführt“, so Mehnert. Die Frau habe ADHS und wollte den Wechsel auf Teilzeit, um im Studium wieder hinterherzukommen und auch nebenher besser arbeiten zu können. „Aber da wird direkt unterstellt: ‚Ihr nehmt euch da was, worauf ihr moralisch keinen Anspruch habt.‘“ Oft koste es Menschen viel Überwindung, in die Sozialberatung zu kommen.

Mehnert erzählt von einem Mann, der vor wenigen Wochen in die Beratung gekommen sei und erzählt habe, wie schwer er sich damit getan habe, weil das für ihn ein Eingeständnis gewesen sei, dass er selbst es ohne Hilfe nicht hinbekommt. Mehnert fragt sich in solchen Fällen, warum von Bürgergeldbeziehern eine höhere Moral erwartet wird als vom Rest der Gesellschaft. „Das sind auch Durchschnittsleute, da ist man mal faul, da ist man mal fleißig.“

Stigmatisierung beim Jobcenter

Seiner Meinung nach ist es Aufgabe der Jobcenter, die Menschen zu stärken. „Und die machen im Prinzip genau das Gegenteil: den Leuten ständig das Gefühl geben, dass sie sich eine Leistung nehmen, die ihnen gar nicht zusteht. Da ist eine Philosophie draus geworden, das ist absolut kontraproduktiv.“

Auch Ronny Marggraf erzählt von Momenten, in denen er das Gefühl hatte, dass man es ihm beim Jobcenter unnötig schwer macht. „Ich hatte alles abgegeben, nur die Bankverbindung hat noch gefehlt. Da haben sie meinen Antrag komplett abgelehnt – und das, obwohl es die Möglichkeit gibt, das per Scheck rauszuschicken.“ Er habe versucht zu erklären, dass er die Bankverbindung noch nicht abgeben könne, weil er noch kein neues Konto habe. „Und das wird einem nicht geglaubt. Und dann wird direkt mit Sanktionen gedroht – bei jeder Kleinigkeit.“

Um der Angst und dem Druck entgegenzuwirken, die das Jobcenter unter anderem durch Sanktionen erzeugen kann, bieten Initiativen wie „Sanktionsfrei“ in Berlin betroffenen So­zi­al­leis­tungs­emp­fän­ge­r*in­nen juristische und finanzielle Unterstützung an. Die Erwerbsloseninitiative „Basta“ bietet eine mehrsprachige Beratung und Begleitung zu Jobcenter- und Sozialgerichtsterminen an.

Allerdings wüssten nur die wenigsten Menschen von solchen Hilfsangeboten, sagt Thomas de Vachroi. Er ist Armutsbeauftragter für den Evangelischen Kirchenkreis Neukölln. Um verdeckter Armut entgegenzuwirken, sei die Aufklärung über Hilfsangebote deshalb zentral: „Zum Ankommen gehört auch ein Kiezspaziergang, dass man so etwas kennenlernen kann und weiß, wo man Hilfe bekommt.“ Man dürfe nicht vergessen, dass Armut je­de*n treffen kann. „Innerhalb von zehn Jahren kann man komplett aus dem sozialen Gefüge rutschen – wenn man den Job verliert, in einer Scheidung ist, alleinerziehend ist oder wird.“

Die Stigmatisierung erst als wohnungsloser Mensch und dann als Bürgergeldempfänger hat Ronny Marggraf sehr beschäftigt. „Weil ich erschrocken war, dass das so klischeebehaftet ist und die Leute so drauf anspringen.“ Nach und nach sei das Fell aber gewachsen und er lasse die Dinge nun nicht mehr so nah an sich heran. „Aber das verändert einen schon, man ist nicht mehr so zugänglich zu anderen Personen, schottet sich ab.“ Genau darin sieht er jedoch die Gefahr: „Wenn man keinen mehr an sich ranlässt, sich nicht helfen lässt, dann bleibt man in diesem Teufelskreis.“

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3 Kommentare

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  • Viele Menschen denen es immer gut ging können sich nicht vorstellen wie schnell selbst nach preisgünstigen Einkäufen die Kasse wieder knapp wird. Wer selbst mal länger als ein Jahr erwerbslos war findet eher einen Zugang zur objektiven Einschätzung der Lebenslage, immer in Sorge um ausreichend Geld zu sein (was manchmal zu Einschlafstörungen führt).

  • Beschämend, wie wir als Gesellschaft Menschen behandeln können.

  • Wenn der Staat "geben" soll wird es immer kompliziert.



    Nein, dahinter steckt nicht "System" - das ist nun Mal so. Oder nicht ?

    Aber wenn der Staat was haben will geht es immer wie geschmiert.