Steigende Armut in Berlin: Immer weniger für immer mehr

Berlin hat die zweithöchste Armutsquote der Republik, die Inflation dürfte die Lage verschlimmern. Senats-Maßnahmen konnten den Trend nicht umkehren.

Eine Kiste voller Lebensmittel bei der Tafel

Die Tafel als Ausdruck der Armut Foto: Reuters/Annegret Hilse

BERLIN taz | Armut ist bekanntlich oft unsichtbar. Sichtbar sind vor allem obdachlose Menschen, die unter Brücken und in Nischen schlafen, wo sie sich nicht verstecken können. Armut ist aber auch, zwar noch eine Wohnung zu besitzen, sich aber die alltäglichen Dinge der kapitalistischen Konsumgesellschaft nicht leisten zu können. Armut bedeutet, auf andere angewiesen zu sein, seien es Freunde oder der Staat. Das kann erniedrigend sein – und so zu gesellschaftlicher Isolierung führen.

In der öffentlichen Debatte ist Armut oft nur in der abstrakten Form der statistischen Erhebung sichtbar. Aber schon aus den Zahlen wird klar: Die Armut steigt.

Gerade musste der Paritätische Gesamtverband seinen Armutsbericht nach oben korrigieren. Laut einer früheren Version vom Juni 2022 waren 2021 19,6 Prozent der Ber­li­ne­r:in­nen von Armut betroffen. Nun liegen die finalen Zahlen des Statistischen Bundesamts vor, auf denen der Armutsbericht basiert. Demnach sind sogar 20,1 Prozent der Ber­li­ne­r:in­nen arm. Das ist der zweithöchste Wert deutschlandweit. Nur in Bremen gibt es noch mehr arme Menschen als in Berlin.

Bundesweit sind 16,9 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen. Der Bericht zeigt, dass in dieser Gesellschaft gerade die Schwächsten häufiger arm sind. So sind Kinder bundesweit mit 21,3 Prozent überdurchschnittlich betroffen, die Altersarmut ist ebenfalls zwischen 2020 auf 2021 von 16,3 auf 17,6 Prozent stark gestiegen.

Auch patriarchale Strukturen zeigt die Statistik: Frauen sind mit 17,8 Prozent zu 1,8 Prozent häufiger von Armut betroffen als Männer. Als arm gilt, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Laut Statistischem Bundesamt waren das für allein lebende Personen 2021 monatlich 1.251 Euro.

Ein Armutszeugnis

„In unseren schlechtesten Träumen hätten wir nicht daran gedacht, dass es nun noch einmal nach oben geht“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider. Noch nie sei ein höherer Wert an Armut gemessen worden. Der Politik stellt er ein „bitteres Armutszeugnis“ aus. Konzepte, die Armut entschieden zu bekämpfen, lägen vor: die Anhebung der Regelsätze für Hartz IV und der Altersgrundsicherung auf 725 Euro, die Anhebung von Bafög und die Einführung der Kindergrundsicherung. Nur umgesetzt würden sie nicht.

Dabei dürfte die Realität inzwischen noch schlimmer sein, als der Bericht darstellt. Spätestens seit Russlands Krieg in der Ukraine grassiert die Inflation. „Wir merken, dass die Armut immer weiter zunimmt“, sagte Ulrike Kostka, Vorstandsvorsitzende der Caritas, zur taz. Gegen die Energiepreise gebe es ja noch die Preisbremse des Bundes, die Preiserhöhungen in den Supermärkten aber schlügen ungebremst durch. „Immer mehr Menschen müssen unsere Beratungsdienste und Hilfsangebote in Anspruch nehmen“, berichtet Kostka. Dabei seien vielerorts noch nicht einmal die Nebenkostenabrechnungen eingetroffen. „Das wird die Lage noch einmal verschlimmern“, ist sie sich sicher.

Auch die Maßnahmen, mit denen sich Rot-Grün-Rot vor der Wahl häufig rühmte, konnten gegen diesen Trend keine Umkehr bewirken. Verabschiedet wurde etwa ein Kündigungsmoratorium für landeseigene Wohnungsbaugesellschaften, ein Härtefallfonds gegen Energiesperren und ein 29-Euro-Ticket beziehungsweise ein 9-Euro-Sozialticket für den öffentlichen Nahverkehr. Insgesamt sehen Sozialverbände diese Maßnahmen durchaus positiv. Insbesondere das 9-Euro-Sozialticket und das Kündigungsmoratorium werden gelobt.

Den Härtefallfonds allerdings haben laut Zahlen, die Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) gegenüber der Morgenpost nannte, bisher nur sehr wenige Menschen in Anspruch genommen. Bisher seien lediglich 224 Anträge gestellt worden, sagte Kipping. Nur 58 wurden bewilligt, 99 Anträge abgelehnt. Von den ursprünglich für den Fonds eingeplanten 20 Millionen Euro sind demnach bisher nur 52.000 Euro ausgezahlt worden. Gabriele Schlimper, Geschäftsführerin vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin, kritisierte die „hohen Anspruchsvoraussetzungen“ des Fonds – und dass nur Mie­te­r:in­nen Hilfe beantragen könnten, die einen Vertrag mit ihrem Energieversorger haben.

Mehr soziale Teilhabe

Kultursenator Klaus Lederer (Linke) hatte zudem versucht, der sozialen Isolation mit kostenlosen Freizeitangeboten entgegenzuwirken. So gab es etwa zwei kostenlose „Kultursommer“, kostenlose Museumssonntage oder die Jugendkulturkarte mit 50 Euro Kulturguthaben für 18- bis 23-Jährige. Diese Angebote seien wichtig und müssten unbedingt fortgeführt werden, sagt Kostka. „Das ist ja das Erste, wo die Menschen sparen. Essen kaufen muss man ja, deshalb verzichten die Leute als Erstes auf die Kultur.“

Welche Rolle solche Projekte in der mutmaßlichen künftigen Koalition aus CDU und SPD spielen werden, ist nicht abzusehen. Angesichts der konservativen Besessenheit mit ausgeglichenen Haushalten darf man skeptisch sein. Immerhin: Björn Wohlert, der sozialpolitische Sprecher der CDU, versicherte der taz, die „Armutsbekämpfung“ sei selbstverständlich Teil der Koalitionsverhandlungen.

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