Verleger über Lebenswerk: „Ich wollte der Radikalste sein“
Erst Ministrant, dann Marx: Eckpfeiler der politischen Sozialisation von Klaus Bittermann. Seit Jahren verlegt er Bücher, die Lust aufs Denken machen.
taz am wochenende: Herr Bittermann, Sie sind gerade 70 Jahre alt geworden, soeben wurde Ihrer Edition Tiamat der Deutsche Verlagspreis verliehen. Seit über 40 Jahren verlegen Sie Bücher, über die sich viele freuen und manche aufregen. Warum diese ungebändigte Streitlust?
Klaus Bittermann: Ohne Dissens, wenn alle sich gegenseitig auf die Schulter klopfen, wird es sehr schnell öde. Erkenntnis lässt sich doch nur in der Reibung mit anderen gewinnen. Aber eigentlich bin ich sehr friedlich, manche sagen sogar harmoniesüchtig.
Sie wurden im oberfränkischen Kulmbach geboren. Sie kommen aus einer kleinbürgerlichen Familie, waren Ministrant. Wie wurden Sie politisiert?
Da hatte ich einfach großes Glück, denn auch an Kulmbach ist 68 nicht spurlos vorübergezogen. 1967 habe ich noch mit Thomas Gottschalk ministriert, aber in der Schule gab es zum Glück ein paar Leute, die mich vom rechten Weg abgebracht haben. Es gab da den lupenreinen Marxisten-Leninisten, der für mich die vierbändige Fischer-Taschenbuchausgabe der Schriften von Marx-Engels in der örtlichen Buchhandlung klaute, um mich mit der richtigen Lektüre bekannt zu machen.
Es gab den Maoisten, der immer im hellbraunen Lederjackett auftrat und mit der kleinen roten Fibel herumwedelte. Es gab den Reichianer, der Sex-Pol-Arbeit machte. Es gab die Kiffer und den Dylanologen. Getrunken haben sie alle bis zum Abwinken. Das war eine Szene, durch die ich für immer für diese damals ja stockreaktionäre Kleinstadt verdorben war.
Sie sind dann nach Nürnberg umgezogen. Dort galten Sie der Polizei als gefährliches Subjekt und wurden observiert. Waren Sie so radikal, oder war die Exekutive so hysterisch?
Natürlich wollte ich damals der Radikalste von allen sein, der ich jedoch nicht war. Durch die Polizei wurde ich in dieser Annahme aber bestärkt, das heißt sie spiegelte mir meine angebliche Gefährlichkeit. Im Nachhinein war das alles sehr lächerlich. Dazu muss man wissen, dass in Nürnberg die höchste Polizeidichte in der Republik herrschte. Man war da vermutlich unterbeschäftigt und hatte nichts Besseres zu tun, als ein paar Jugendliche, die ein bisschen renitent waren, wie Terroristen zu behandeln. Sie erinnern sich vielleicht noch an die KOMM-Ereignisse 1981.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Im selbstverwalteten Kommunikationszentrum gab es eine Veranstaltung und eine anschließende kleine Spontandemonstration von vielleicht hundert Leuten, bei der drei Scheiben zu Bruch gingen. In Berlin hätte niemand davon Notiz genommen, da passierte das jeden Tag. In Nürnberg wurde das Gelände des Zentrums, in das sich die Demonstranten zurückgezogen hatten, von einer riesigen Polizeistreitmacht umzingelt, alle anwesenden Personen – so an die 150 Leute – verhaftet und ihnen wurde der Prozess gemacht. Die Nürnberger Justiz bewies dabei großes Fingerspitzengefühl: Die Urteile ergingen im selben Raum des Justizgebäudes, in dem schon die Nürnberger Prozesse stattgefunden hatten. Das hat bundesweit für Schlagzeilen gesorgt, aber Nürnberg ließ sich nicht beirren. Höchste Zeit für mich, nach Berlin zu gehen.
Für 1968 waren Sie etwas zu jung, für Punk ein paar Jahre zu alt. Was hat Sie geprägt?
Ich hatte noch richtige Nazis als Lehrer, bei denen man strammstehen musste, während der Lehrer unsere Körperhaltung mit dem Spruch kommentierte: Die Weide biegt sich, die Eiche aber bricht. Er wollte natürlich lauter Eichen als Schüler. Später war ich kurz mal in der Schwarzen Hilfe und besuchte jugendliche Gefangene in den gut gefüllten Haftanstalten.
Ich wurde auf der Suche nach etwas völlig Neuem bei den Situationisten fündig, studierte die Bücher von Raoul Vaneigem und Guy Debord, dessen Hauptwerk „Die Gesellschaft des Spektakels“ später bei mir erschienen ist. Ich entdeckte Dada und den Surrealismus und den Anarchismus des Spanischen Bürgerkriegs. Punk stand ich zunächst skeptisch gegenüber, war dann aber total begeistert und veröffentlichte später das Standardwerk über die Sex Pistols von Jon Savage, „England’s Dreaming“.
Das ist längst nicht der einzige von Ihnen verlegte Titel, der Aufmerksamkeit erregt hat.
Ja, da war auch Hannah Arendt zum Beispiel, als sie noch nicht Liebling des Feuilletons war, mit ihren Essays über die Lager und den Nationalsozialismus. Dann natürlich die Bücher von Wiglaf Droste, mit dem mich eine lange Freundschaft verbunden hat. Ich war auch der erste Verleger von Roger Willemsen und habe die „vergeigten“ Memoiren von Harry Rowohlt herausgebracht, der erste Bestseller des Verlags. Nicht zu vergessen die Bücher des Pop-Theoretikers Mark Fisher. Auf das bereits 1951 in Frankreich erschienene Standardwerk über den Genozid an den Juden von Léon Poliakov, das 70 Jahre später bei Tiamat erschienen ist, bin ich besonders stolz.
Guy Debords „Gesellschaft des Spektakels“ ist eines der originellsten und wirkmächtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts. Haben Sie in jüngerer Zeit mal wieder reingelesen? Alt werden, schreibt Debord da zum Beispiel, sei in dieser Gesellschaft verboten.
Da hat er recht. Früher war es der Hass auf die Jugend, der die Alten jung gehalten hat, heute ist es die Aussicht auf das ewige Leben. Aber jeder Jungbrunnen versiegt irgendwann, und wenn man dann sozial benachteiligt ist, wird man „verräumt“. Nicht schön.
Der Weg
Der 1952 in Kulmbach geborene und aufgewachsene Verleger und Autor studierte in Erlangen Philosophie, Soziologie und Politologie und arbeitete hauptsächlich zu Hegel, Kant und der Frankfurter Schule.
Die Weggefährten
1979 gründete Bittermann den Verlag Edition Tiamat. Mit der Herausgabe der Bücher von Wolfgang Pohrt, Eike Geisel, Fanny Müller, Günther Anders, André Breton, Harry Mulisch, Roger Willemsen und anderen professionalisierte sich der Verlag. Bittermann selbst schrieb bislang 16 Bücher. 2000 gründete er die im Roten Salon der Berliner Volksbühne und im Festsaal Kreuzberg stattfindende Leseshow „Der Club der letzten Gerechten“. Derzeit bereitet er mit Sophie Rois eine Leseshow über den „intellektuellen Grenzgänger Wolfgang Pohrt“ vor, die am 5. Mai in der Volksbühne stattfindet.
Man kennt Sie nur im Anzug, manchmal kombiniert mit Turnschuhen. Wann und wieso haben Sie sich für das Tragen der bürgerlichen Uniform entschieden?
Bürgerliche Uniform würde ich nicht sagen. So Ende der Achtziger oder Anfang der Neunziger dürfte es gewesen sein, als mich der alternative Einheitslook zu nerven begann, der immer mehr zum Mainstream wurde. Vor allem in Berlin, wo möglichst verwahrlost und prollig herumzulaufen schon immer zum bevorzugten Outfit gehörte. Eine Zeit lang trug ich einen weißen Anzug von Armani, den ich in Mailand gekauft hatte. Meistens waren es aber Secondhand-Anzüge, aber von Designern. In Kreuzberg fiel das kaum jemandem auf.
Vor einem Vierteljahrhundert haben Sie mit Gerhard Henschel das „Wörterbuch des Gutmenschen“ herausgegeben, um die moralisierende „Schaumsprache“ eines protestantisch-linksliberalen Milieus zu kritisieren. Inzwischen ist der Vorwurf, jemand sei ein „Gutmensch“, zum billigen Mittel von Rechten geworden, jede Idee von emanzipatorischer Radikalität zu denunzieren. Bereuen Sie Ihre Intervention heute?
Nein. Und zwar aus verschiedenen Gründen. Damals, also Anfang der Neunziger gaben die Gutmenschen tatsächlich den Ton an, und damit meine ich solche Autoren wie Martin Walser, Matthias Horx, Hans-Eberhard Richter, Wolfgang Thierse, die mit einer Schmierfilmsprache das angeblich Gute im Menschen suchten und priesen. Empfindsame und geduldige Menschen, die intensiv spüren, was von außen auf sie einwirkt, die sich aktiv um das Leben kümmern, die sich Sorgen um andere Menschen machen. So ähnlich jedenfalls lautete die Selbstdarstellung von Hans-Eberhard Richter. Es war kaum zum Aushalten.
Was hat Sie daran aufgeregt?
Dass es sich dabei um Gesinnung von der Stange handelte, um das „Wort zum Sonntag“. Es ging um Vokabeln wie „ein Stück Versöhnung“, „Glaubwürdigkeit“, „gerade wir als Deutsche“, „verkrustete Strukturen aufbrechen“, „Versöhnung“, „Brücken bauen“. Wir haben da klassische Sprachkritik betrieben, diese Begriffe in ihrem Bedeutungszusammenhang seziert und herausgearbeitet, wie inhaltsleer diese Sprache ist. Ich finde das nach wie vor richtig, denn die Kritik wird nicht falsch dadurch, dass die Rechten sie goutiert haben oder sogar versuchten, sie zu imitieren.
Das gelingt denen nur selten, weil’ s dann doch an Humor fehlt.
Nicht nur an Humor, sondern auch an Können. Der ehemalige Konkret-Herausgeber Klaus-Rainer Röhl hat sich da als Trittbrettfahrer versucht, aber was er zustande gebracht hat, war ziemlich erbärmlich. Das Entscheidende an den Einwänden gegen Henschel und mich als Herausgeber war, dass wir den Rechten quasi den Weg geebnet haben. Aber an diesem Problem sind doch nicht diejenigen schuld, die die Gutmenschen kritisiert haben, sondern immer noch die Gutmenschen selbst, die alles dafür getan haben, dass „jede Idee von emanzipatorischer Radikalität denunziert wird“, wie Sie es ausgedrückt haben. Was ich im Übrigen bezweifle, denn wenn es sich wirklich um eine solche handelt, dann funktioniert das nicht mit dem Denunzieren.
Sie haben auf die Vorwürfe reagiert und noch ein Buch nachgelegt.
Genau. Mit Wiglaf Droste zusammen habe ich einen zweiten Band des „Wörterbuchs des Gutmenschen“ herausgegeben, in dem explizit die Schaumsprache der Rechten analysiert wurde anhand von Begriffen wie „dem Ansehen Deutschlands schaden“, „linke Lebenslügen“, „mit Nazis reden“ und so weiter.
Vor ein paar Jahren haben Sie begonnen, eine Gesamtausgabe der Werke des Sozialwissenschaftlers Wolfgang Pohrt herauszugeben. Und Sie haben eine Pohrt-Biografie geschrieben, die vor Kurzem erschienen ist. Pohrt hat in der taz die nationalistischen Tendenzen der Friedensbewegung kritisiert. Das kam weder in der Redaktion noch bei der Leserschaft gut an.
Das ist richtig, aber man muss auch sagen, dass es damals in der taz Redakteure gab, die natürlich wussten, dass Pohrt immer für eine Debatte und für jede Menge Aufregung gut war, und dass diese Aufregung gut fürs Blatt ist, weil jeder darüber redete. Was kann einer Zeitung Besseres passieren, als mit einem Artikel gegen die Friedensbewegung so viel Aufmerksamkeit zu erzeugen, dass dieser sogar von der Zeit nachgedruckt wird? Dort hat er übrigens dann noch mal für Furore gesorgt, sodass sich die Zeit genötigt sah, drei Gegenartikel zu bringen, um die Empörung der Leserschaft zu dämpfen. Meistens dürfte man mit den Artikeln Pohrts nicht einverstanden gewesen sein, aber man wusste auch, dass man sich mit ihnen ins Gespräch brachte.
Sagt uns Pohrt heute noch was, oder sind seine Polemiken nur noch für Historiker interessant?
Es gibt aus dem Jahr 1979 von Pohrt einen Nachruf auf ein Jahrzehnt. Und was wird da verhandelt? Die Angst vor dem Atomtod, die Phobie vor dem Rauchen, das Verschwinden des Geschlechterunterschieds, Naturkatastrophen, Selbsthilfegruppen, der unbeugsame Wille zum Leben. Das sind alles aktuelle Themen, die immer wieder in anderem Gewande auftauchen und dann diskutiert werden, als sei das ganz neu und noch nie dagewesen.
Was man aus seinen Polemiken und Analysen lernen kann? In jedem Fall, dass an allem zu zweifeln ist, dass die Kritik einen Zeitkern hat, weshalb Kritik nicht immer die gleiche Gültigkeit und Richtigkeit beanspruchen kann, dass das Philosophieren – dem sich Pohrt hin und wieder gerne hingab – die ernsteste Sache der Welt ist, aber so ernst auch wieder nicht, und schließlich, dass alle Theorie vergeblich ist und es darum geht, trotzdem zu versuchen, die Wirklichkeit zu entschlüsseln. Von seiner Herangehensweise an die Probleme habe ich viel gelernt. Letzthin fand ich bei Adorno einen wunderbaren Satz, der, wie ich finde, gut zu Pohrt passt: „Wer sich keine unnützen Gedanken macht, streut auch keinen Sand ins Getriebe.“
Heute hört man von Friedensfreunden noch immer, Waffen würden keinen Frieden schaffen. Dass es alliierte Waffen waren, die Europa vom Naziterror befreit haben, scheint nicht ins Gewicht zu fallen. Ist die Friedensbewegung ewiger Ausdruck deutscher Ideologie?
Es ist nie etwas ewig, aber was stimmt, ist, dass sich Deutschland eben eine Friedensbewegung leisten kann und dass dieser nationale Töne noch nie fremd waren. In jedem Fall ist die Annahme „Frieden schaffen ohne Waffen“ schon immer falsch gewesen, denn wer die Herstellung und den Verkauf von Waffen verböte, um Menschenleben zu retten, müsste einen Dritten Weltkrieg anfangen, um das Verbot durchzusetzen, wie Pohrt das einmal formuliert hat.
Im vergangenen Jahr ist bei Ihnen Caroline Fourests „Generation Beleidigt“ erschienen. Ein erfolgreiches Buch, das die totalitären Tendenzen linksidentitärer Politik kritisiert. Nun wurde eine Veranstaltung mit Fourest an der Berliner Volksbühne abgesagt. Was ist da los?
Ich bin nach wie vor etwas konsterniert. Die Veranstaltung sollte ein Gespräch mit einer Moderatorin enthalten, ein Referat von Fourest und anschließend sollte es eine Diskussion mit dem Publikum geben. Kurz vor Drucklegung des Programms regten sich offenbar Stimmen im Theater, die Fourest für eine „Populistin“ halten. Ihre Positionen erschienen auf einmal bedenklich, weshalb man ihr die Bühne nicht allein überlassen wollte.
Zudem fing man an, am Titel der Veranstaltung „Generation Beleidigt“ herumzumäkeln. Das sei eine falsche Aussage und müsse zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden. Nach Rücksprache mit der Autorin habe ich mich entschieden, die Veranstaltung abzusagen. Inzwischen scheint es, wie ich hörte, der Volksbühne peinlich zu sein, denn natürlich wäre das genau die richtige Veranstaltung für die Volksbühne gewesen: eine offene Diskussion und Streit, den man nun aus Gesinnungsgründen abgewürgt hat.
Früher konnten kleine Verlage oft schneller auf gesellschaftliche Ereignisse und Debatten reagieren. Die großen zogen nach. Welche Vorteile hat es heute, wenn man wie Sie Verleger, Lektor, Sekretär und Pressemann zugleich ist?
Das hat keine Vorteile und heißt nur, dass man ständig überarbeitet ist. Und ja, so schnell wie die großen Verlage auf aktuelle Themen reagieren, das können kleine Verlage nicht leisten. Der Vorteil für kleine Verlage wie mich besteht darin, Bücher zu machen wie „Generation Beleidigt“ von Caroline Fourest, weil sich die großen Verlage an solche Themen nicht trauen und nichts so sehr fürchten wie einen Shitstorm. Die holen sich dann Leute der Textprüfstelle „Sensivity Reading“ ins Haus, um möglicherweise anstößige Stellen weichspülen zu lassen. Diese Entwicklung finde ich haarsträubend.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus