Verkehrspolitiker zum Koalitionsvertrag: „Scheuer hat Papier geschwärzt“
Stefan Gelbhaar, Verkehrsexperte der grünen Bundestagsfraktion, ist unzufrieden mit dem Koalitionsvertrag. Und nicht nur mit dem.
taz: Herr Gelbhaar, Noch-CSU-Verkehrsminister Andreas Scheuer hat über den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP gesagt: „Schön, dass die Ampel meine Arbeit der letzten Jahre fortsetzt.“ Kann es eine vernichtendere Kritik geben?
Stefan Gelbhaar: Andreas Scheuer wollte eine kleine Stinkbombe werfen, das hat er geschickt gemacht. Aber der Koalitionsvertrag stellt sein Werk der letzten vier Jahre hart infrage. Nur ein kleines Beispiel von vielen: die Forschungseinrichtung Zentrum für Mobilität, deren Einrichtung mit hohen Investitionen Scheuer intransparent nach Bayern vergeben hat. Der Koalitionsvertrag legt nun fest, dass wir das Zentrum für Mobilität neu aufstellen werden.
Scheuer mag das Wort „Verkehrswende“ nicht, es kommt auch im Koalitionsvertrag nicht ein einziges Mal vor. Haben die Grünen ihre verkehrspolitischen Ziele für anderes verkauft, etwa für eine moderne Gesellschaftspolitik?
Auch wenn der gesellschaftspolitische Teil des Koalitionsvertrages sehr gelungen ist: Nein, das ist nicht aus dem Vertrag zu lesen. Ich hätte mir gewünscht, dass ein paar Sachen konkreter wären. Festzustellen ist, dass einige Konflikte in der Legislaturperiode gelöst werden müssen, die eben im Vertrag nicht geklärt sind. Doch das ist in jedem Koalitionsvertrag der Fall. Aber wir haben zum Beispiel die Antriebswende vereinbart. Das ist nicht die Verkehrswende, aber ein Teil davon.
Jahrgang 1976, ist verkehrspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag. Der Berliner hat den Ampel-Koalitionsvertrag nicht mitausgehandelt.
Die Antriebswende, das heißt bis 2030 sollen 15 Millionen E-Autos auf deutschen Straßen fahren. Das ist ungefähr das Ziel, das die Autoindustrie selbst hat.
Die Zahl stammt vom Umweltbundesamt mit Blick auf die Pariser Klimaschutzziele.
Nach Befragungen der Nationalen Leitstelle Ladeinfrastruktur gehen auch die Hersteller von dieser Menge E-Autos aus.
Die Autoindustrie nennt eine hohe Zahl, damit der Druck zur Errichtung vieler Ladesäulen da ist, unabhängig davon, wie viele E-Autos wirklich auf die Straße kämen. Wichtig aber ist doch, dass ab 2030 keine Verbrenner mehr auf den Markt kommen. Das ist das Ziel. Mit 15 Millionen batterieelektrisch betriebenen Pkws erfolgt diese Verdrängung. Im Vertrag finden sich dann auch mehr Punkte als nur die Pkw-Antriebswende: Die neue Koalition steckt in die Deutsche Bahn nicht nur noch mehr Geld, sondern wir werden die Infrastruktursparte der Bahn vom Zwang befreien, Gewinne abzuführen. Das ermöglicht ein gemeinnütziges Arbeiten. Außerdem haben wir vereinbart, dass die Lkw-Maut ausgeweitet wird und eine CO2-Komponente bekommt. Die Einnahmen werden künftig nicht nur für die Straße, sondern auch für Bus und Bahn verwendet werden können. Das ist ein Paradigmenwechsel.
Die Passage zur Radpolitik umfasst einen einzigen Absatz mit 420 Zeichen ohne konkrete Maßnahmen. Das ist die Länge einer Kurzmeldung. Sind Sie da als Radpolitiker nicht maßlos enttäuscht?
Ja. Und ein bisschen nein. Ja, weil man natürlich dort viel konkreter hätte beschreiben müssen, wo die Reise hingeht, was die Idee der künftigen Radverkehrspolitik sein soll. Nein, weil dort steht, dass der nationale Radverkehrsplan umgesetzt wird, der eine Vielzahl von Infrastrukturmaßnahmen und Verbesserungen auch bei Verkehrsrechtfragen vorsieht.
Der nationale Radverkehrsplan, den Scheuer vor einigen Monaten präsentiert hat?
Der nationale Radverkehrsplan wurde von der Breite der Zivilgesellschaft erarbeitet. Herr Scheuer hat keinen Anteil daran, er hat vielleicht drei Monate vor der Wahl verkündet, dass er jetzt einen Plan hat. Er hat Papier geschwärzt. Genau darin muss jetzt der Unterschied liegen: dass die Zeit des Papierschwärzens vorüber ist und wir ins Tun kommen. Entscheidend ist, ob der neue Verkehrsminister, auch wenn er von der FDP ist, sagt: Da gehe ich ran.
Und geht der neue Verkehrsminister Volker Wissing da ran?
Also, wenn der Koalitionsvertrag von der FDP unterschrieben wird, dann gehe ich von Vertragstreue aus und achte auch darauf.
Mehr als 70 Kommunen in Deutschland würden gerne Tempo 30 einführen. Wieso räumt die neue Bundesregierung nicht die Hindernisse weg, die dem etwa in der Straßenverkehrsordnung entgegenstehen?
Da muss man klar sagen, dass die Bündnisgrünen FDP und SPD leider nicht überzeugen konnten.
Die Grünen haben vor der Wahl gesagt, der Bundesverkehrswegeplan soll überprüft werden, der den Bau von 850 weiteren Autobahnkilometern vorsieht. Was wird daraus in den Händen eines FDP-Ministers?
Auch der FDP-Verkehrsminister ist an das Pariser Klimaabkommen gebunden. Die Paris-Ziele werden mit einer Antriebswende allein nicht erreicht, weil zum Beispiel auch der Bau von Infrastruktur eine hohe CO2-Relevanz hat. Die Küstenautobahn A20 soll beispielsweise durch Moore führen, Moore sind enorme CO2-Speicher. Im Ergebnis: Die Straßenbauprojekte müssen auf den Prüfstand, zumal wir in Deutschland eh schon das dichteste Straßennetz weltweit haben. Natürlich würde ich eine Überprüfung durch eine grüne Verkehrsministerin oder einen grünen Verkehrsminister bevorzugen. Da steht ja ein gesellschaftlicher Konflikt dahinter. Dieser Konflikt wird jetzt in einer Koalition bearbeitet, die diesen Konflikt eben auch in ihren Parteien ausdrückt. In der letzten Legislatur wurde er in der Regierung nicht ausgetragen. Es wurde einfach gebaut, Stadt wie Natur vernichtet, als ob es kein Morgen gäbe.
Was ist mit dem Steuerprivileg für Diesel-Käufer:innen? Die entsprechende EU-Richtlinie, mit der es abgeschafft werden soll und auf die der Koalitionsvertrag Bezug nimmt, gibt es noch nicht. Wird die neue Regierung dafür sorgen, dass die Richtlinie kommt?
Wir haben im Koalitionsvertrag und schon in der Sondierungsvereinbarung den Abbau umweltschädlicher Subventionen vorgesehen, das Dieselprivileg gehört in diesen Katalog. Wir könnten es meiner Auffassung nach auch ohne die EU-Richtlinie abschaffen, aber das ist jetzt erst mal die Vereinbarung.
An diesem Punkt könnte nicht nur die FDP, sondern auch die SPD bremsen.
Das ist im Verkehrsbereich an vielen Stellen so. Jedoch liegt jeder, der gedacht hat, die Arbeit wäre mit einem Koalitionsvertrag getan, so oder so falsch.
Der Luftfahrtbranche geht es wegen der Coronakrise schlecht. Jetzt wäre der Zeitpunkt für Veränderungen. Aber es bleibt bei klimaschädlichen Kurzstreckenflügen, eine Erhöhung der Luftverkehrsabgabe soll mit Hinweis auf die Krise erst ab 2023 geprüft werden. Verliert die Ampel da nicht wichtige Zeit?
Wir haben im Bereich Luftverkehr bei den Emissionen ein paar positive Zielbestimmungen vorgenommen. Bei den angesprochenen Punkten werden wir uns in der Legislaturperiode zusammensetzen müssen, um zu klimaschutzfreundlichen Lösungen zu kommen. Da liegt noch ein Stück Arbeit vor uns.
Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie bewerten Sie die Verkehrspolitik im Koalitionsvertrag der Ampel?
In der Mitte. Weil es darauf ankommt, was wir daraus machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen