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Verhandlungen um HandelsabkommenBrexit-Nervosität macht sich breit

„Es ist der Moment der Wahrheit“, heißt es aus der EU. London sieht ohne Bewegung Brüssels keine Chance auf einen Deal.

Protest bis zum Schluss: Eine Brexit-Gegnerin in Westminster Foto: ap/Alberto Pezzali

Brüssel/London taz | Deal oder No Deal? In Brüssel macht sich Nervosität breit. Statt des üblichen „The time is running out“ heißt es nun: „Es ist der Moment der Wahrheit.“ Das sagte EU-Verhandlungsführer Michel Barnier am Freitag in Brüssel zu den Verhandlungen über ein Handelsabkommen.

„Wir haben sehr wenig Zeit übrig – nur ein paar Stunden“, fügte er hinzu. Aus London waren am Vorabend nach einem Gespräch zwischen EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Großbritanniens Premier Boris Johnson pessimistische Töne zu hören: Die EU müsse ihre Haltung „substanziell“ ändern, um noch zu einer Einigung zu kommen.

Zuvor hatten die EU-Abgeordneten eine eigene Deadline gesetzt: Am Sonntagabend soll Schluss sein. Wenn bis dahin kein Ergebnis vorliegt, könne man den Deal in diesem Jahr nicht mehr ratifizieren, warnte der Vorsitzende des Handelsausschusses, Bernd Lange. Ursprünglich wollte die EU schon am vergangenen Sonntag einen Deal erzwingen.

Doch dann kündigte Kommissionschefin von der Leyen überraschend eine Nachspielzeit an. Es habe Bewegung gegeben, man wolle auch die „Extrameile“ gehen, so von der Leyen. Tatsächlich haben sich beide Seiten in wesentlichen Punkten aneinander angenähert. Vor allem die Europäer haben einige alte Positionen geräumt.

Heftig umstritten sind immer noch die Fischereirechte

So hat die EU ihre Forderung aufgegeben, dass Großbritannien automatisch allen neuen Regeln in der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgesetzgebung folgen müsse. Es soll stattdessen eine „managed divergence“ ­geben. Dabei könnten die Europäer Zölle auf britische Waren erheben, die nicht zu denselben Bedingungen produziert wurden.

Eine Einigung gab es offenbar auch in der Frage der Streitschlichtung. Heftig umstritten sind hingegen immer noch die Fischereirechte. Die EU hat eine Übergangsfrist von 10 Jahren vorgeschlagen, in der sich am europäischen Zugang zu britischen Fischgründen nicht viel ändern soll. London will aber nur drei Jahre zugestehen.

Um einen Kompromiss zu ermöglichen, hat Brüssel die Fischfangquoten für die Nordsee und den Nordatlantik für das kommende Jahr nur vorläufig festgelegt. Ob das ausreicht, um den drohenden „No Deal“ zu verhindern, ist jedoch wieder fraglich geworden. Zuletzt hatten sich die Positionen auf beiden Seiten wieder verhärtet.

Auf diesem Gebiet sei die Position der EU „nicht vernünftig“, hieß es noch am Donnerstagabend vonseiten der britischen Regierung nach einem Telefonat mit von der Leyen. In einer Erklärung hieß es weiterhin, dass die Verhandlungen sich in einem „ernsten Stadium“ befänden. Großbritanniens Premier Boris Johnson habe beim Telefonat erklärt, „dass ohne eine substanzielle Abänderung der Position der EU höchstwahrscheinlich kein Übereinkommen erreicht werden könnte“.

Kabinettsmitglied Michael Gove schätzte die Wahrscheinlichkeit eines „Deals“ auf weniger als 50 Prozent ein. Er betonte, dass Großbritannien für den Fall eines No-Deal-Brexits vorbereitet sei. Gove sagte zum fairen Wettbewerb, es sei nicht in Ordnung, dass die EU entscheide, etwa Unterstützung für Elektroautos zu gewähren, der Vertrag Großbritannien dasselbe jedoch verbiete.

Nur eins ist klar: Big Ben wird bimmeln

Die Abgeordneten des britischen Parlaments haben derweil zwar am Donnerstag ihre Winterpause begonnen, jedoch mit der Ankündigung, sie könnten bereits am Montag zurückgerufen werden, um die für einen etwaigen Vertrag notwendige Gesetzgebung bis zum 31. Dezember zu verabschieden.

Was auch immer am Wochenende entschieden wird, eins ist bereits klar: Die Glocke Big Ben wird zwar derzeit renoviert – zum Ende der Übergangsphase am 31. 12. 2020 um 23 Uhr, Mitternacht in Brüssel, soll sie aber trotzdem läuten.

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3 Kommentare

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  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    ""So hat die EU ihre Forderung aufgegeben, dass Großbritannien automatisch allen neuen Regeln in der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgesetzgebung folgen müsse.""



    ==



    Mitnichten - oder so ähnlich.

    Ziel der EU ist es langfristig gültige vertragliche Vereinbarungen zu schaffen hinsichtlich des eigenen gemeinsamen Marktes der EU 27 Nationen im Handel



    mit UK.

    Die Architektur nach den EU Vorstellungen eines fairen Wettbewerbs mit gleichen Wettbewerbsbedingungen ruhen auf zwei Säulen: den



    a..staatlichen Beihilfen und



    b.. die Nichtregressionsklausel gegen das Unterlaufen von Standards.



    Diese Vereinbarungen sind fertig verhandelt: Durch ein Regelwerk wird verhindert werden das hohe Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards nicht unterboten werden dürfen.

    Die Durchsetzung von EU Standards auf dem eigenen Markt (!) wird schwieriger - weil bei Nichtbeachtung der Standards eine Governancevereinbarung in Kraft tritt wonach unmittelbar nach Verletzung geahndet werden darf.

    Das bedeutet - sollte überhaupt eine vertragliche Handelsvereinbarung zustande kommen - und das ist derzeit fraglich, kan mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, das England massiv versuchen wird die roten Linien der EU auszutesten.

    Ansonsten ist im Jahr 2020 wenig bekannt das UK eklatante Schwierigkeiten bis 1973 hatte sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Wie besorgt derzeit die britische Regierung ist lässt sich aus der Erlaubnis für LKW Fahrer erkennen ihre Fahrzeiten eklatant auszuweiten und das Risiko in Kauf nimmt, das ermüdete LKW - Fahrer den allgemeinen Verkehr gefährden.

    UK sendet 43 Prozent seiner Exporte in die EU; Deutschland, Frankreich und Italien senden jeweils rund 6 Prozent ihrer Exporte nach GB - wobei mit oder ohne Deal - es zu eklatanten Handelunterbrechungen kommen wird.

    Es wird spannend wie weit Brexit Boris noch weiter nach rechts außen treiben wird und damit die Versorgung des Land eklatant gefährdet.

    • @06438 (Profil gelöscht):

      „UK sendet 43 Prozent seiner Exporte in die EU; Deutschland, Frankreich und Italien senden jeweils rund 6 Prozent ihrer Exporte nach GB - wobei mit oder ohne Deal - es zu eklatanten Handelsunterbrechungen kommen wird.“



      Wenn Ihre Zahlen stimmen würden, würde ich mir weniger Sorgen um den Brexit machen.



      Mir liegen andere Zahlen vor. Bei „meinen“ Zahlen macht mir da der Brexit schon größere Sorgen. Die Suche nach seriösen Quellen ist mühsam!



      „Warenhandel zwischen Großbritannien und der EU nach Ländern (2010-2017)



      Auf Deutschland, die Niederlande, Frankreich und Belgien entfallen 60 Prozent des EU-Handels mit Großbritannien“



      www.europeandatajo...en-und-der-EU-wert

      • @D-h. Beckmann:

        Das widerspricht sich eigentlich nicht.



        Die 60% sagen nur, dass die restlichen 40% Handel mi GB sich auf die restlichen EU-Staaten verteilen, diese also noch weniger betroffen sind.



        Wenn D und F jeweils 6% ihrer Exporte nach GB schicken und damit schon zu den am stärksten mit GB handelnden EU-Staaten gehören, zeigt das aber sehr deutlich, wie arrogant und falsch die von Brexit-Nefürworten ständig postulierte "Wahrheit" ist, dass die EU viel zu sehr unter einem Brexit leiden würde als dass sie sich nicht zu den gewünschten Bedingungen erpressen lassen würde...