Verdrängung in Puerto Rico: Der Kaufrausch nach dem Sturm
2017 verwüstet Hurrikan „Maria“ das US-Außengebiet Puerto Rico. Seitdem kaufen Investoren vom Festland massenweise Immobilien, die Preise explodieren.
D er Wagen kriecht die schmale asphaltierte Straße hinauf. Gloria Cuevas fährt Schrittgeschwindigkeit. Ihr linker Arm ruht auf dem Lenkrad, den rechten schwenkt sie wie einen Taktstock mal nach links, nach rechts, dann wieder nach links. Hier unten wohnt Familie soundso, da oben der Sohn von Frau soundso. Nachbarschaftsgeschwätz. Jeder kennt jeden. Rincon, ein Surfer-Städtchen am westlichen Zipfel Puerto Ricos. Dreieinhalb Flugstunden trennen das Karibikparadies von New York.
An diesem Januarmorgen kehrt Cuevas, 67, Silberlocken, Silberringe, gebräunte Haut, zum ersten Mal in das Haus zurück, von dem sie geglaubt hatte, hier würde sie einmal alt werden. Dann kam alles anders.
Im September 2017 überlebte sie eine der tödlichsten Naturkatastrophen in der Geschichte der Vereinigten Staaten: den atlantischen Wirbelsturm „Maria“. Kategorie fünf, Windgeschwindigkeit 260 km/h, geschätzte 3.000 Todesopfer. Die Schäden beliefen sich auf knapp 112 Milliarden Dollar.
Gloria Cuevas, ihre Frau und ihre sieben Hunde und Katzen kamen in letzter Minute bei Freunden unter und retteten sich vor der Flut. Ihre Mietwohnung wurde vom Sturm platt gemacht, sie verloren fast ihren gesamten Besitz: Dokumente, Antiquitäten, ein geliebtes Bettwäscheset, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Monatelang lebten sie ohne Strom, zogen von Unterkunft zu Unterkunft.
Gloria Cuevas, 67
Schon lange vor dem Sturm hatten Puerto Rico Schulden in Milliardenhöhe geplagt. Dann kam „Maria“. Und einige verstanden die nationale Tragödie als Einladung. Auf dieser Insel kann man jeden, wirklich jeden fragen, was es mit dem Begriff „Katastrophen-Kapitalismus“ auf sich hat, jeder nickt sofort, alle wissen Bescheid. Naturkatastrophen schaffen ideale Bedingungen für Investoren: Man stürzt sich auf die niedrigen Immobilienpreise und macht später damit Gewinn.
In den Wochen nach dem Hurrikan fehlte es an medizinischer Versorgung, an Strom, um Insulin zu kühlen und Beatmungsgeräte zu betreiben. Es gab keine passierbaren Straßen, kein Benzin, keine Transportmittel, um Patienten in Krankenhäuser zu bringen, an Dialysegeräte anzuschließen und Notfälle zu behandeln. Menschen waren durch Wassermassen, Bergrutsche und einstürzende Gebäude ums Leben gekommen. Unzählige wurden obdachlos, Zehntausende verloren ihre Jobs.
Als der damalige US-Präsident Donald Trump 13 Tage nach der Katastrophe für vier Stunden nach Puerto Rico einflog, prahlte er mit der hervorragenden Katastrophenhilfe und warf in einer Kirche mit notleidenden Puerto Ricanern Rollen Küchenpapier in die Menschenmenge. Das Desaster versuchte er zu relativieren. „Katrina“, der Hurrikan, der 2005 Teile von New Orleans verwüstet hatte, der sei eine „echte Katastrophe“ gewesen.
In der Realität hatte die Katastrophenhilfe versagt. Als Cuevas Wochen nach dem Hurrikan endlich ein Hilfspaket von der amerikanischen Katastrophenhilfe FEMA auspackte, fand sie darin statt sauberem Trinkwasser die Süßigkeitensorte Skittles und Dosenfleisch.
Cuevas parkt vor dem Haus, das früher ihr Reich war. Sie steigt aus und richtet den Blick starr auf den hellgrün gestrichenen Gitterzaun: die Grenze zu ihrer alten Welt, die sie verlassen musste. Nach „Maria“ hatten sie jahrelang gesucht und schließlich das Haus am Hügel bezogen. Hier legten sie einen Pflanzengarten an, so prächtig, dass Besucher anhielten, um Fotos zu machen.
Bis die Besitzer sich vor einem Jahr dazu entschlossen, das Haus für teures Geld zu verkaufen – wie so viele es seit „Maria“ tun. Wie Cuevas da steht, wirkt sie verloren. Um sie herum ein tropisches Pflanzenreich aus Palmen, Brotfruchtbäumen, Papayas. Von den Hügeln her zwitschert und blüht es wie im botanischen Garten.
„Das Absurde ist“, bricht es aus ihr heraus, „die Gringos können unsere Hühner und unsere coquis, die Frösche, gar nicht ausstehen.“ Die Gringos, so nennt man hier Festland-Amerikaner, die seit einiger Zeit in Scharen auf die Insel ziehen, Immobilien aufkaufen und die Mietpreise in die Höhe treiben. Cuevas betont immer wieder, sie persönlich habe nichts gegen Gringos, sie selbst lebte zwanzig Jahre lang auf dem Festland. „Das hier ist kein Kampf zwischen uns und ihnen. Sondern einer zwischen Reich und Arm.“
Zwischen 2017 und 2022 kamen in Puerto Rico weitere 300.000 Wohnungen durch Stürme zu Schaden. Einwohner dieser Häuser mussten häufig fliehen. Im Universitätsviertel Rio Piedras in der Hauptstadt San Juan stehen noch immer fast die Hälfte der Gebäude leer, berichtete die NGO „Centro Para la Reconstruccion del Habitat“ 2022. Vielen Hausbesitzern fehlten die erforderlichen Dokumente, um nachzuweisen, dass die Häuser ihnen gehören.
Geschichte Im Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898 verlor die bisherige Kolonialmacht Spanien die Insel an die Amerikaner; seitdem gehört Puerto Rico zu den USA. Um zusätzliche Soldaten für den Ersten Weltkrieg zu rekrutieren, sprach Washington den Inselbewohnern 1917 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft zu.
Rechtlicher Status Bis heute ist Puerto Rico ein „Außengebiet” – ein seltsamer Hybrid, der zwar zu den USA gehört, bei der Präsidentschaftswahl jedoch nicht abstimmen darf. Im Repräsentantenhaus ist die Insel mit einer Delegierten vertreten, die jedoch ebenfalls kein Stimmrecht besitzt. Produkte aus Puerto Rico werden als „made in America“ vermarktet, die Einwohner haben US-amerikanische Pässe und können jederzeit in die USA übersiedeln. Doch sie fühlen sich als Bürger zweiter Klasse.
Ungleichheit Das durchschnittliche Haushaltseinkommen auf der Insel beträgt umgerechnet knapp 22.000 Euro pro Jahr, auf dem US-Festland ist es grob dreieinhalb Mal so viel. Vier von zehn Inselbewohnern leben unterhalb der Armutsgrenze – doppelt so viele wie in Mississippi, dem ärmsten US-Bundesstaat. Dabei ist das Leben auf der Insel genauso teuer wie in den USA.
Das lokale Wirtschafts-Think-Tank „Center for a New Economy“ fand in einer Studie zur Entwicklung des Immobilienmarktes heraus, dass Angebote für Kurzzeitunterkünfte wie Airbnb nach „Maria“ um 30 Prozent anstiegen. In Rincon dient jede dritte Mietunterkunft der Kurzzeitmiete. So wie Cuevas musste in beliebten Küstenstädten fast jeder, der zur Miete lebte, in den letzten Jahren sein Haus verlassen, weil jemand es aufkaufte und andere Pläne hatte – früher lebten fast alle zur Miete, weil es bezahlbar war. Heute wandert man Richtung Peripherie oder aufs Festland ab. Zwischen 2017 und 2019 stiegen Immobilienpreise um 23 Prozent an.
Einheimische nennen Rincon im Scherz „Grincon“. Sie berichten, wie „die Gringos“ mit ihren Scheckbüchlein am Strand entlangschlendern und nach potenziellen Verkäufern spähen, oft nach alten Menschen. Auf den Straßen und in den Restaurants ist fast nur noch Englisch zu hören. Aber längst sind es nicht nur die Amerikaner, die Häuser aufkaufen: auch gut verdienende Puerto Ricaner profitieren von dem Trend. Jeder will an dem Airbnb-Boom mitverdienen.
Cuevas sitzt jetzt in der „Sunset Bakery“, auf einem Parkplatz am Rande Rincons: ihr Happy Place, wo sie regelmäßig Freunde trifft. Auch heute umarmt sie stürmisch eine Gruppe älterer Männer, die hier sich hier zum Kaffeetrinken verabredet haben. Sie selbst trinkt weder Kaffee noch sonst irgendwas. Sie dreht pausenlos an ihren Silberringen herum und spricht, stundenlang. Von der Ungerechtigkeit, von der Korruption, vom Aktivismus gegen die Privatisierung der Strände Rincons. Es fühle sich so an, sagt sie, als ob der Hurrikan ihrer Insel ein Schild aufgedrückt hätte: „Zum Verkauf“.
Als ob die, die jetzt ein Strandhaus nach dem anderen aufkaufen und renovieren lassen, vergessen hätten, wo sie hier seien. Cuevas weiß sehr gut, was die Klimakrise für Puerto Rico, für ihre drei Kinder und Enkel bedeutet. Weiß, dass die Stürme immer öfter, immer heftiger kommen könnten. Das Warten auf den nächsten Hurrikan ist immer eine tickende Zeitbombe. „Wir alle haben hier ein kollektives Belastungssyndrom.“
Katastrophen-Kapitalismus passiert nicht im luftleeren Raum, er wird von einem politischen Rahmen erst ermöglicht. Weniger als ein halbes Jahr nach dem Sturm hatte Puerto Ricos damaliger Gouverneur Ricky Rosselló vor einem New Yorker Business-Publikum verkündet, Maria sei ein „blank canvas“, eine leere Leinwand für Investoren, sich ihre Traumwelt zu malen.
Im März 2018, einen Monat nach dem Auftritt des Gouverneurs, kamen im Luxushotel Vanderbilt Condado am Strand der Haupstadt San Juan 800 „Puertopians“ zusammen. Drei Tage lang surften und meditierten sie, daneben bastelten sie zusammen an ihrer Utopie, Puerto Rico in ein Paradies für Krypto-Investoren, ein „Hongkong der Karibik“ umzuwandeln.
Einer der Sprecher prahlte, wie er seit seinem Umzug von Kalifornien nach Puerto Rico als Amerikaner nur 4 Prozent Einkommensteuer zahle, statt 55 Prozent in den USA. Wer seinen Wohnsitz vom Festland hierher verlegt und mindestens 183 Tage im Jahr in Puerto Rico lebt, profitiert von Steuervergünstigungen. Genau deshalb sind so viele hier. Eigentlich sollten so durch Investitionen Arbeitsplätze geschaffen und die Insel aus der Rezession gezogen werden. In der Realität sind es häufig dieselben Profiteure, die Gebäude aufkaufen und sie in Luxuspaläste verwandeln.
Auch im Januar brennt in Rincon die Sonne auf der Haut. An einem dieser strahlend schönen Tage sitzt Damien Chiodo, 50, Gringo, auf einer Holzbank auf seiner Farm und versucht, Puerto Rico zu erklären. Die Hühner gackern, die Hunde toben, im Hintergrund plätschert der Fluss. Wäre Selbstbewusstsein ein Mensch, wäre es Chiodo. Zwischen seine Erklärungen schiebt er in kurzen Abständen Wörter wie „fuckin“, „pussy“ und „bro“.
Chiodo besitzt 150 Immobilien in Puerto Rico, nur eine davon ist ein Airbnb: als Zeitvertreib für seine Frau. Vor fünf Jahren zog er mit seiner Familie in ein Haus am Strand in Rincon. Wenige Autominuten entfernt kaufte er außerdem eine Farm mit Dutzenden Hühnern, einem Schwein, Ziegen und drei Hunden. Die Eier, die die Hühner legen, verteilt er in der Nachbarschaft. Dafür hat er sich selbst auf Google eine Bewertung von fünf Sternen gegeben. „Unsere Farm versorgt jeden Tag zehn Familien“, steht da. „Ich bin nicht der Bösewicht, den du zu finden hoffst“, hatte er vor dem Interview in einer Nachricht geschrieben.
Ihn ärgert das „Kolonialismus-Narrativ“, das linke Journalisten vom Festland auf der Insel suchen und in die Welt tragen würden. Gleichwohl, gibt er zu, habe diese Erzählung eine Berechtigung. Aber glaubt man Damien Chiodo, ist das Ganze viel komplizierter. Nicht alles lässt sich mit dem Kolonialismus und Amerikanern wie ihm erklären, die ihren Lebensmittelpunkt hierher verlagert hätten.
Seit fünf Jahren lebt Chiodo mit seiner Familie in Rincon. Mal sagt Chiodo, er sei von Kalifornien hergezogen, weil er sich hier ein Haus direkt am Strand leisten könne. Dann wieder, weil es in Rincon keine Amokläufe gäbe und seine Kinder sicher zur Schule gehen könnten. Er selbst besitzt gut zwei Dutzend Waffen („zur Verteidigung“), auch jetzt gerade liegt eine in seinem Auto. Er lacht ein bisschen verlegen. Auf seinem linken Oberschenkel ist eine bunte Pistole tätowiert, auf dem Knöchel über seinem rechten Fuß „Punkrocker“. Immer wieder schicken ihm Aktivisten der lokalen Gruppe von #GringoGoHome Morddrohungen. Einmal drohte man, seine Frau zu vergewaltigen.
Leben in Puerto Rico, sagt Chiodo, sei so anstrengend, dass es sich manchmal so anfühle, als ob man es den Menschen absichtlich schwermachen wolle. Die hohen Steuern für Einheimische, die die Ärmsten in der Gesellschaft am stärksten belasten, ein dysfunktionaler Bürokratieapparat, die schlechte medizinische Versorgung. Und vor allem: die Korruption in der Regierung. Die Tageszeitung San Juan Daily Star berichtete vor einem Jahr, eine der größten Immobilienfirmen gehöre dem Sohn des Gouverneurs Pedro Pierluisi. Der gab zwar zu, sein Sohn würde etwa 200 Wohneinheiten managen. Diese würden aber nicht ins Gewicht fallen, sagte er. Vorschläge zur Regulierung des Wohnungsmarktes lehnt er ab.
Viele Puero Ricaner ziehen lieber aufs Festland, nach Florida, Philadelphia oder New York. Fast alle haben Familie drüben. Knapp dreieinhalb Millionen Puerto Ricaner leben auf der Insel, rund acht Millionen auf dem Festland. In den Monaten nach „Maria“ erlebte Puerto Rico den größten Massenexodus seiner Geschichte. Ältere Menschen mussten wegen der fehlenden medizinischen Versorgung ihr Zuhause verlassen und zogen zu ihren Kindern aufs Festland, Jüngere verließen die Insel, um der Armut und der desolaten Arbeitsmarktsituation zu entkommen.
Einige warnen, Puerto Rico könnte sich mit dem Immobilienwahn und Tourismusboom in eine Gesellschaft von Köchen, Baristas und Gärtnern verwandeln, deren wichtigster Zweck es ist, die Bedürfnisse von Touristen und Krypto-Milliardären zu befrieden.
Chiodo ist Gründer und CEO der Firma Keylink. Kann jemand die Schulden für seinen Hauskredit nicht abzahlen, wenden sich Banken wie die Bank of America oder Santander an Keylink, die sich dann um Renovierung und Weiterverkauf kümmern – manchmal auch um Zwangsräumungen. Wegen der Rezession machte Chiodo schon lange vor „Maria“ Geschäfte auf der Insel. Als „Maria“ über Puerto Rico fegte, befand er sich gerade in der Hauptstadt. „Nach dem Sturm auf die Straße zu gehen fühlte sich an, als hätte jemand eine Atombombe abgeworfen“, erinnert er sich.
„Haben Sie Gewissensbisse wegen Ihrer sechs Privathäuser auf der Insel?“
Er nickt. Dann tut Chiodo etwas, was er selten tut: er schweigt kurz. Er sagt, er habe den Swimmingpool in seinem Garten so bauen lassen, dass er von draußen kaum zu sehen sei.
122 seiner Immobilieneinheiten, die er hier an der Südküste im Städtchen Aroyo kaufte, ließ er renovieren und verwandelte sie in Bungalows für sozialen Wohnungsbau, der den Schwächsten ein Zuhause gibt. „Eines der bereichernden Projekte in meinem Leben.“ Chiodo liebt „opportunities“, er liebt den Luxus. Aber er liebt auch die Idee, zu den Gerechten zu gehören. Er versteht die Unterprivilegierten der Welt, er wuchs selbst in Armut auf. Als Jugendlicher ging er für sich und seine Mutter im Wald Eichhörnchen jagen, um etwas zum Essen zu haben.
Den Begriff „Katastrophen-Kapitalismus“ kennt Chiodo. Er bedeutet Ausbeutung. Und die Ausbeuter sind die, die Kapital aus der Schwäche anderer ziehen. „Opportunismus liegt in der Natur des Menschen.“ Aber er persönlich kenne niemanden hier, der das absichtlich tue. Viele Amerikaner halfen nach „Maria“ tatsächlich, andere wollten helfen, seien aber einfach „douchebags“.
Ein „White Savior Komplex“ – also sich für einen weißen Retter zu halten – sei das Letzte, was diese Insel braucht – dieselben weißen Menschen, die die Insel mehr als ein Jahrhundert kolonialisiert und sie ihrer Ressourcen beraubt hätten, wollen die Einheimischen jetzt retten, indem sie ihnen erzählen, wie alles besser geht. Schwierig.
San Juan ist ein tropischer Schmelztiegel. Eine Stadt, in der der Himmel fast immer strahlt und in der Tag und Nacht Salsa-Beats tönen. Knallbunte Häuschen im spanischen Kolonialstil reihen sich wie Traubenzuckerketten aneinander. Nichts passt hier zusammen, aber alles macht Sinn. In den vergangenen Jahren wurden gigantische Hotelbauten am Strand hochgezogen. Man geht schnorcheln und lässt sich mit einer Machete Kokosnüsse öffnen, aus denen man das Wasser schlürft. Ein Airbnb mit acht Betten in der Altstadt kostet zu Hochzeiten 3.000 Dollar pro Nacht, die Krypto-Szene boomt. Aber zwischendrin: illegale Hausbesetzerprojekte, Gemeinschaftsgärten, leerstehende Gebäude, überall Graffiti. Manchmal blockieren Hühner und giftgrüne Leguane die Straßen.
Alana Mediavilla, 37, trifft ihre Geschäftspartner heute im Universitätsviertel Rio Piedras. Sie hat 40 Minuten für ein Interview, kündigt sie an. Sie sitzt mit den Partnern im Sandwichladen „El Panismo“, wo sie zu Mittag essen. Sie trägt Pluderhosen und eine Kette mit einem „Coqui“-Anhänger: das Nationalmaskottchen. Derselbe Frosch, von dem Gloria Cuevas sagt, die Gringos könnten ihn nicht ausstehen.
Mediavilla ist: Produzentin, Regisseurin, Unternehmerin, dreifache Mutter und Ehefrau. Außerdem Bitcoin-Investorin. Gerade hat das Filmfestival Cannes ihre Dokumentation „Stranded“ als besten Kurzfilm ausgezeichnet. In ihrer Familie bringt sie das Geld nach Hause, sagt sie stolz.
Mediavilla kam in Puerto Rico zur Welt. Als Studentin zog sie in die USA, zuletzt lebte sie im kalifornischen San José. Mit Anfang zwanzig wurde sie schwanger und musste ihr Studium abbrechen. Als die Pandemie ausbrach, beschlossen sie und ihr amerikanischer Mann, nach Puerto Rico zu ziehen. Hier hat sie für sich und ihre Familie im Örtchen Humacao außerhalb San Juans für 250.000 Dollar eine Dreizimmerwohnung am Strand gekauft. In Kalifornien wäre das niemals möglich gewesen. Mediavilla versteht die Aufregung um die Wohnungsnot nicht. „Was hier passiert, passiert auch auf dem Festland. Nur ist es eben eine sexy Geschichte, dass die Sündenböcke hier die ‚bösen Weißen‘ sind, die ‚Colonizers‘.“ Der Rassismus gegen Amerikaner, gegen ihre eigenen Kinder, sei neu. Er passe nicht zum internationalen Puerto Rico. Dieser magischen Insel, auf der sie aufwuchs und die sie liebt. Wer hier mit guten Absichten herkommt, der werde mit offenen Armen empfangen.
Sie sagt, sie als Unternehmerin und Künstlerin hätte hier endlose Möglichkeiten, vom US-Staat finanzierte Stipendien für Projekte zu ergattern. „Geld fällt hier von den Bäumen, man muss sich nur bewerben.“ Vielen, die über Gringos herziehen, fehlten die richtigen Zugänge. Sie wüssten nichts von all dem.
Ihren Behauptungen entgegen gaben andere Gesprächspartner gegenüber der tazan, Stipendien würden immer an die gleichen großen Organisationen vergeben werden: hinzu kommen sogenannte Reimbursement Grants, Darlehen, bei denen man Vorschüsse leisten müsse: Geld, das viele nicht haben. Dabei hat die Regierung seit „Maria“ 84 Milliarden Dollar zum Wiederaufbau der Insel zur Verfügung gestellt.
„Weißt du, wie schwierig es ist, von den Männern zum Golfspielen eingeladen zu werden?“, fragt Mediavilla. So sei die Welt eben: ungerecht. Jeder müsse netzwerken, für sich kämpfen, so wie sie ihr Leben lang kämpft. Das hier sei ein freies Land: wer entscheidet, wer auf der Insel leben darf und wer nicht? Sie weiß ihre neoliberalen Einstellungen eloquent zu verteidigen. „Unsere Politiker haben uns mehr gestohlen als die Gringos. Unsere Wut richtet sich an die Falschen!“
Gloria Cuevas sagt, die Regierenden Puerto Ricos seien Marionetten Washingtons. Sie, ihre Frau und die Tiere haben Rincon letztes Jahr verlassen und sich endlich ein Häuschen gekauft, aus dem sie niemand mehr vertreiben kann. Sie leben jetzt in Mayagüez, einer Studentenstadt an der Westküste.
Damian Chiodo füttert die Hühner und streichelt die Hunde, dann läuft er Richtung Wagen. Nächste Woche, sagt er, wird er wieder unterwegs sein: Business in Baltimore. In den letzten 15 Monaten saß er 135 Mal im Flieger.
Mediavilla isst ihr Schinkensandwich nicht auf, sie läuft zum Büro zurück. Vorbei an leerstehenden Gebäuden, über denen „Zu verkaufen“-Schilder hängen, passiert sie Murals und Beschmierungen mit „Gringo Go Home“.
Rio Piedras ist das Zuhause von feministischen Kollektiven, düsteren Punk-Spelunken und Secondhand-Läden. Auf dem Straßenpflaster haben Künstler zusammen mit den Einwohnern eine überdimensionale Kakerlakenskulptur aufgestellt. Ihr Körper aus recyceltem Rost und Stahl reckt sich triumphierend in die Höhe. Das Insekt als Sinnbild für die Einwohner des Viertels: Die Kakerlake ist eine Überlebenskünstlerin. Wenn alle anderen längst weg sind, harrt sie aus. Auch die Menschen in Rio Piedras wollen hier bleiben. Selbst wenn eines Tages alles den Gringos gehören wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen