Verbotene Familienzusammenführung: Die Sehnsucht von Vater und Sohn
Der Syrer Akram Koujar lebt in einem Berliner Asylheim. Seine Familie steckt in einem Istanbuler Keller fest.
Und wenn man Akram Koujar, 54, Kurde, gelernter Elektriker, dann fragt, wo er am liebsten ist in dieser Stadt, mit all ihren wundervollen Orten, dann hört er auf zu reden und sagt irgendwann, dass ihm nichts einfällt, weil er sein Zimmer kaum verlasse, nur ganz selten Spaziergänge macht, so wie jetzt. „Ich würde gern viel durch Berlin fahren“, sagt er dann. „Aber ich kann nicht. Es tut weh. Immer daran denken. Immer nicht glücklich sein. Immer auch …“ er sucht das Wort „… böse sein.“
Böse sieht Koujar nicht aus, er ist ein kleiner Mann mit sanfter Stimme und schütterem Haar, dem die zu große Lederjacke etwas arbeiterhaftes verleiht, sein kurdischer Akzent weicht sein bedächtiges Deutsch ein. An diesem Nachmittag im November läuft er vorbei am Gebrauchtwagenparkplatz von Ford Dinnebier, er biegt in die Treskower Straße, schlurft durch das Laub, das die Linden losgelassen haben. Mit seinen frischen Vokabeln versucht er zu beschreiben, warum sein Leben in Berlin, an diesem sicheren Ort, der ihm so gut gefällt, sich so falsch, so unwirklich anfühlt. „Ich bin ja nicht auf dem Mond“, sagt er. „Ich bin noch auf der Welt. Aber es fühlt sich nicht so an. Alles bei uns zu Hause ist kaputt, meine Fabrik, mein Haus. Und die Familie so weit weg.“
Am 1. Juni 2017 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Akram Koujar „subsidiären Schutz“ zuerkannt. Es ist ein Asyl zweiter Klasse. Wer es bekommt, darf zwar drei Jahre bleiben, aber seine Familie nicht nachholen. 2015 hatte der CSU-Chef Horst Seehofer Bundeskanzlerin Merkel diese neue Regel wegen Menschen wie Akram Koujar abgetrotzt. In einer langen Erklärung lobte Seehofer sich danach selbst für das „schärfste Asylrecht aller Zeiten“.
Die Treskower Straße 15 ist ein sechsstöckiger Bau. In der Eingangshalle hängt die Postliste vom heutigen Tag, Koujar tritt ganz nah heran, drückt den Zeigefinger auf die erste Zeile und wandert dann ganz langsam bis ans Ende des Blattes herab, dann schüttelt er den Kopf. Keine Behördenpost für ihn heute.
Berlin: Drei Männer, 21,31 Quadratmeter
Es ist eines der besseren Flüchtlingsheime in Berlin. Seit neun Monaten lebt er hier. Das PVC auf den Gängen glänzt wie in einem Krankenhausflur, das Zimmer 6-21B ist „21,31 QM“ groß, es steht an der Tür, als wolle die Heimleitung jedem Besucher beweisen, dass die Flüchtlinge hier auch wirklich so viel Platz bekommen wie vorgeschrieben ist. Einer von Koujars beiden Zimmergenossen hockt auf dem Bett und zerschneidet Marmorkuchen mit einem Taschenmesser, leere Wodka- und Rotweinflaschen stehen auf dem Boden, Teebeutel trocknen im Ausguss vor sich hin, ein minibargroßer Kühlschrank surrt. Der Blick aus dem Fenster nimmt die Enge, er ist weit, die Herbstsonne steht tief und strahlt den Fernsehturm an, als sei er ein goldener Leuchtturm.
Koujar sitzt auf einem Klappstuhl er schaut hinaus, wo ein Krähenschwarm seine Runden über dem Gewerbegebiet dreht und langsam die Dämmerung anbricht. „Weißt du, warum ich Berlin so mag?“, fragt er. „Weil das alte Denken hier weg ist.“
Akram Koujar in Berlin
Das „alte Denken“, wie er es nennt, das sei die Mischung aus Religion und Politik, die so viel Unheil über den Nahen Osten gebracht habe. „Das macht die Diktaturen da.“ Dieses „alte Denken“, das verlange, dem Koran immer zu gehorchen, weil es der Wille Gottes sei – diese Idee sei 1.500 Jahre alt. „Meine Kinder sind jung. Das gefällt mir nicht für sie“, sagt Koujar. „Aber man darf das nicht sagen, sonst töten sie dich.“ In Syrien, im ganzen Nahen Osten, entkomme niemand der Religion. „Man ist automatisch Muslim und kann das nicht wechseln. Man darf das nicht einmal denken.“ Das, glaubt Koujar, sei der Grund für die Lage in seiner Heimat. „Ich will, dass meine Kinder hierherkommen. Seit sechs Jahren dauert der Krieg. Nur Probleme. Schwere Arbeit.“
Früher hatte Akram Koujar zwei Autos, sagt er. „Meine Familie war glücklich. Was wir wollten, konnten wir kaufen. Davon ist nichts mehr da.“ Er lebt heute von 408 Euro Sozialleistungen im Monat, plus Miete. „Wenn ich Geld hätte, könnte ich es der Mafia geben, damit sie meine Familie herbringt“, sagt er und meint Schlepper. „Aber ich habe ich nichts mehr. Und Familien, die kein Geld haben, können es nur über das Meer versuchen.“
Die Familie in der Istanbuler Kellerunterkunft
Akram Koujars Familie, das ist seine Frau Hewar, 53; die Söhne Jomerd, 13 Jahre alt; Dilawar, 23 und alt, sowie dessen Frau und zwei Kinder. In Gaziosmanpaşa, auf der europäischen Seite Istanbuls, leben sie zusammen in einer Kellerwohnung, es ist düster, feucht, und kalt. Nachdem sie hier kürzlich eingezogen sind, verging kein Monat und alle wurden krank, erst Dilawars kleine Kinder, dann der Rest.
Jomerd Koujar, Koujars jüngster Sohn, ist lang aufgeschossen und schmal, sein Gesicht weiß wie Babyhaut. „Ich bin tierisch sauer, ich weiß nicht, wie der Krieg angefangen hat oder wie er enden soll. Aber ich vermisse mein Leben in Syrien furchtbar. Die Neujahrsfeiern, die Besuche bei den Onkeln, vor allem aber Papa.“ Fast drei Jahre haben sie den Vater nicht gesehen.
Jomerd sagt, seine Mutter solle ihm ein Smartphone kaufen, weil er auf YouTube Fußball sehen will. Er will machen, was andere 13-Jährige tun: zur Schule gehen, zeigen, was er kann, und die schwierigsten Aufgaben in seinem Lieblingsfach Mathe lösen, Fußball spielen. Ein normales Leben.
Stattdessen läuft Jomerd aus der Kellerwohnung von Gaziosmanpaşa jeden Tag zu Fuß zu einer Textilfabrik. Putzen, Tee verteilen, mit Bügelmaschinen hantieren, Stoffe zuschneiden, an der Nähmaschine nähen. Ohne die 250 Lira, umgerechnet 60 Euro pro Woche, die Jomerd aus der Fabrik mitbringt, könnte die Familie nicht überleben. Zur Schule kann er deshalb nicht mehr.
Als der Krieg nach Syrien kam
Die Eheleute Akram und Hewar Koujar stammen aus Afrin, im Norden Syriens, nahe Aleppo. 1987, beide sind 23 Jahre alt, ziehen sie nach Damaskus. Akram macht eine Ausbildung als Elektriker, 1993 wird Dilawar geboren, 2003 Jomerd. Im selben Jahr beginnt der Vater eine kleine Textilfirma aufzubauen. Er bleicht Jeans. Als 2011 der Krieg beginnt, hat er 23 Angestellte.
Sie leben in Harasta, 30.000 Einwohner, einem Vorort von Damaskus. „Die Stadt wurde von den alten Griechen gegründet“, sagt Koujar. Auf neuen Fotos aus Harasta aber reihen sich die Ruinen aneinander, als habe sich die arabische Zivilisation schon ebenso verabschiedet wie jene der Hellenen. Eine der Schutthaufen, die heute in Harasta liegen, ist der kleine Laden, den seine Frau betrieb, eine anderer Koujars Jeans-Bleicherei.
Harasta ist eine von neun Städten, in denen die Menschen vor sechs Jahren begannen, gegen Assad auf die Straße zu gehen. Zivilpolizei kam und verhaftete viele Menschen. „Die Familien haben nicht erfahren, was mit ihnen geschah“, sagt Akram Koujar.
Für ihn gibt es den „großen Krieg“ und den „kleinen Krieg“. Der „kleine“ beginnt kurz nach den Demonstrationen: Es ist die Zeit, in der mit Kalaschnikows gekämpft wird. „Da sind wir geblieben.“ Im August 2012 aber fängt langsam der „große Krieg“ an: Bombenangriffe.
In dieser Zeit heiratet der ältere Sohn Dilawar in Aleppo. Der Krieg dort wird heftiger. Mit seiner Frau kommt er nach Damaskus, zieht ins Haus der Eltern ein. Koujars Frau muss operiert werden. Jomerd hatte bis dahin die Grundschule in Duma, sechs Kilometer weiter östlich besucht. Jetzt aber fährt der Schulbus nicht mehr. Im September 2012 schließlich wird das Haus der Familie zerstört, sie ziehen bei Freunden ein.
Entscheidung zu Flucht ohne den Vater
Der Sohn Dilawar muss Wehrdienst leisten, der Vater bekommt deshalb Drohungen von Assad-Gegnern. Als Dilawar wegen eines Todesfalls in der Verwandtschaft Urlaub erhielt, drängt der Vater zur Flucht der Familie. Im Januar 2013 verkauft er seine beiden Autos und bezahlt die Schlepper. Die bringen die Familie nach Sarıbahçe, nahe Adana in der Türkei, wo ein Cousin lebt. Nur Akram Koujar bleibt in Syrien. Er gilt als kurdischer Assad-Gegner, die gemeinsame Flucht hält er für zu gefährlich. Der Kontakt zur Familie bricht zum ersten Mal ab.
„Wir waren nicht einmal sicher, ob er noch am Leben war“, sagt die Mutter Hewar in der Istanbuler Kellerwohnung. „Jomerd war noch klein, er lief immer aus dem Zimmer, wenn von seinem Vater die Rede war. Noch heute kommen ihm die Tränen und er kann nicht sprechen, wenn sein Vater anruft.“ Jomerd wechselt lieber das Thema. „In einer Woche konnte ich Türkisch“, sagt er. „Sprachenlernen fällt mir leicht.“
Jomerd Koujar in Istanbul
Doch Jomerds Freude an der Schule währte nicht lange. Der Lehrer will keine Probleme mit syrischen Flüchtlingen. Die Mitschüler diskriminieren den Jungen. „Ich hab mich gemeldet, hab gesagt, ich kann die Gleichung lösen, da hieß es: 'Syrer, halt den Mund!’ Ich zeige auf, das übersehen sie. Dann hab ich’s aufgegeben“, sagt Jomerd.
In der Türkei sind religiöser Konservatismus und Nachbarschaftskontrolle in den Armenvierteln unmittelbar zu spüren. Menschen wie die Koujars, die aus einer eher säkular geprägten Mittelschicht kommen, fällt es schwer, sich in solche Viertel zu integrieren. Auf Fragen wie: „Warum betest du nicht? Warum kommst du nicht zum Freitagsgebet?“, antwortet Dilawar dann offen: „Bruder, ich bin Atheist!“, was sein Leben nicht leichter macht.
Die Flucht des Vaters nach Berlin
Im September 2015 gelingt es dem Vater Akram Koujar, Syrien zu verlassen und zu seiner Familie nach Sarıbahçe zu stoßen. Zweieinhalb Jahre hat er sie nicht gesehen. Doch für seine Frau und die Kinder ist klar: Sie wollen nicht länger in der Türkei bleiben. Es ist die Zeit, in der Hunderttausende Syrer nach Europa gehen. Doch sie haben nicht genug Geld, um die Überfahrt für alle zu bezahlen. Der Vater kann kein Türkisch. Er hat kaum Chancen, in der Türkei Arbeit zu finden und die Familie durchzubringen. Also macht er sich als erster auf den Weg nach Deutschland. Wieder ist die Familie vaterlos, aber immerhin hat sie jetzt die Hoffnung, dass Akram sie nachholt.
1.200 Dollar gibt Akram Koujar „der Mafia“ wie er sagt. Dafür bringt sie ihn nach Istanbul. Eine Nacht bleibt er dort, dann geht es nach Lesbos, Athen, Mazedonien, Serbien, Kroatien, Ungarn, es geht immer sofort weiter, über Österreich nach Deutschland. „Ich weiß nicht mehr, welche Stadt es war, in der ich ankam.“ Was Koujar noch weiß ist, wie die Polizei ihn in einen Bus setzt und er am 8. Oktober 2015 vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin-Moabit aussteigt. 300 Euro hat er da noch in der Tasche.
Er bekommt einen Schlafplatz in der Sporthalle Wichernstraße in Berlin-Spandau. Es gibt drei Mal am Tag Essen und 130 Euro Taschengeld im Monat. Als im Januar der erste Schnee fällt, kann er seinen Asylantrag stellen.
Seine Familie geht im März 2016 nach Istanbul. Dort ist das Leben teuer. Viertel, in denen Wohnungen erschwinglich sind, liegen weit außerhalb der Stadt, sind arm und gefährlich. Auf dem Heimweg von der Arbeit wird der jüngere Sohn Jomerd eines Abends von zwei Drogensüchtigen mit einem Messer bedroht und ausgeraubt. Seither begleitet die Mutter ihn jeden Tag bis zur Fabrik.
Jomeds Traum: Schule und Fußball
Jomerds Traum, zur Schule zu gehen und Fußball zu spielen, ist verschoben, bis die Familie beim Vater in Deutschland ist. Auch wenn Jomerd rasch erwachsen werden musste, ist er ein aufgeweckter, kluger, sensibler und aufmerksamer Junge. Er schaut jeden Abend die Nachrichten. All seine Hoffnungen und Träume davon, wieder wie ein normaler Jugendlicher leben zu können, hat er darauf gerichtet, dass der Vater die Familie nach Deutschland holt. Er hat keine Ahnung, wie es in Deutschland ist. „Ist auch nicht so wichtig“, sagt er. „Es ist schon deshalb gut dort, weil Papa da ist.“ Wieder beim Vater zu sein, ist für ihn gleichbedeutend damit, wieder ein normaler Junge zu sein.
Jeden Tag, immerhin das, kann die Familie über Skype und WhatsApp telefonieren. „Was sonst können wir machen?“, fragt Akram Koujar in Berlin. „Wie schwer das ist, sich nicht treffen zu können?“ Er bekommt 409 Euro im Monat, sein Essen kann er jetzt selber bezahlen, und eigentlich auch eine Wohnung. Aber er findet keine.
Auf dem Handy hat er eine Lern-App für Deutsch installiert. Seit November besucht er einen Deutschkurs. „Das Lernen ist schwierig für einen alten Mann. Ich habe immer viel gelesen in Syrien. Jetzt bleiben die Wörter nicht mehr so leicht in meinem Kopf“, sagt er. „Aber ich weiß, ich bin trotzdem gut. Meine Nachbarn sind jünger und sprechen noch kein Wort Deutsch.
Ein Elektriker, der nicht arbeiten darf
20 Jahre hat er in Syrien als Elektriker gearbeitet. Bis er das auch in Deutschland darf, wird es noch dauern. „Das Papier mit den Elektriker“, er meint sein Ausbildungszeugnis, „habe ich nicht mitgenommen“, sagt er. Fürs Erste hat er ein Praktikum gemacht. Er kann sich seine Qualifikation anerkennen lassen, doch dafür müsste er wohl weitere Lehrgänge besuchen, davor aber an seinem Deutsch arbeiten. „Ich lerne immer, ich habe viel Zeit.“ Oder auch nicht.
Bald wird er 55. Das ist kein gutes Alter für den Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt. Jomerd einen Schulbesuch zu ermöglichen, das wäre das allerwichtigste für ihn. Viel Zeit bleibt dafür nicht mehr. Doch solche Gedanken lässt er nicht zu. „Ich kann nicht schwach sein, ich muss stark sein. Ich bin ein Vater. Ich habe eine Aufgabe für meine Familie.“
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