Urteil zur Behandlung psychisch Kranker: Mehr Rechte im Zwang
Ärztliche Zwangsmaßnahmen wirken nicht in jedem Fall gegen die Betroffenen. Eine Erwiderung auf einen Kommentar der Autorin Lea De Gregorio.
W ann dürfen Menschen zwangsbehandelt werden? Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) erklärte es für verfassungswidrig, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen ausschließlich in Krankenhäusern durchgeführt werden dürfen. Dieser Vorstoß löste in der taz Kontroversen aus. Die Autorin Lea De Gregorio schrieb in einem taz-Text, dass sich Menschen nun unsicher fühlen würden, vor allem zu Hause oder in Einrichtungen wie Pflegeheimen und dem betreuten Wohnen. Gregorio befürchtet eine Ausweitung des Zwangs sowie die Einschränkung von Grundrechten.
Gregorios Sicht ist nachvollziehbar, aber es gibt auch andere, die ihrer entgegenstehen: Das BVerfG-Urteil stärkt die Rechte Betroffener. Denn durch das Urteil ist jetzt klar, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen, die nur im Krankenhaus durchzuführen sind, dem Grundgesetz widersprechen. Dahinter steht ein einfacher Gedanke: Ein Krankenhausaufenthalt kann die Gesundheit verschlechtern. Denn Behandlungen oder Eingriffe sind immer dann Zwangsmaßnahmen, wenn sie gegen den Willen des Patienten durchgeführt werden, egal wo sie durchgeführt werden.
Im Fall, den das BVerfG zu entscheiden hatte, wollte ein Berufsbetreuer im Namen einer Frau mit paranoider Schizophrenie, eine zwangsweise ärztliche Behandlung mit einem Neuroleptikum durchführen lassen. In der Vergangenheit waren regelmäßig Fixierungen und das Anlegen einer Spuckmaske zum Transport ins Krankenhaus notwendig. Aber: Eine Behandlung im heimischen Umfeld könnte dies verhindern. Das Gericht erkannte, dass diese Erfahrungen auf andere Betroffene übertragbar sind: Eine ausnahmslose Behandlung im Krankenhaus kann durch den Ortswechsel und den Kontakt mit fremden Personen traumatisierend wirken, insbesondere für Demenzpatienten oder Menschen mit wahnhaften Erkrankungen. Doch Betroffenenverbände wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe kritisieren das Urteil: Wenn Zwangsmaßnahmen ausgeweitet werden, würden sie häufiger angewandt.
Diese Sorgen sind verständlich, aber unbegründet. Die meisten Kriterien im Gesetz zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen bleiben nach wie vor bestehen. So darf medizinisches Fachpersonal eine Zwangsmaßnahme nur als letztes Mittel einsetzen, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden. Zudem muss der oder die Betreute aufgrund der psychischen oder geistigen Verfassung die Notwendigkeit der Maßnahme nicht erkennen können. Ebenso muss die betreuende Person ernsthaft versucht haben, den oder die Betreute von der Maßnahme zu überzeugen. Die wiederum dann nicht gestattet ist, sobald es eine weniger belastende Alternative gibt.
Schutz vor sich selbst
Das grundsätzliche Ziel, Gewalt in der Psychiatrie zu verhindern, ist richtig. Die Frage indes ist: Inwieweit muss ein Mensch vor sich selbst geschützt werden? Zwang darf nur angewandt werden, wenn der Nutzen größer ist als der Schaden, den der Betroffene sich selbst oder anderen zufügen könnte. Manchmal können Menschen nicht für sich selbst sorgen. Daraus sollte jedoch kein „Recht auf Verwahrlosung“ während einer psychischen Krise folgen. In Einrichtungen warten Mitarbeitende mitunter eine Eskalation ab, weil sie rechtlich erst dann reagieren dürfen. Manchmal leiden Betroffene unnötig lange, hierbei geht es nicht nur um Medikamente, sondern auch um Zahnbehandlungen, Knochenbrüche, Routineuntersuchungen.
Die Konsequenzen der Nichtbehandlung sieht man insbesondere an Menschen, die weitgehend außerhalb des Systems und ohne Betreuung leben. In unseren Städten gibt es Wohnungslose, manche von der Welt entrückt, die sich aus Mülltonnen ernähren und sich in Alufolie wickeln statt in Kleidung. In diesen Fällen sind klare Vorgaben, die nötigenfalls Zwangsmaßnahmen einschließen, die bessere Lösung. Im Idealfall können sich Betroffene wieder neu sortieren und selbstbestimmter leben.
Unabhängig davon ist der Zwang an viele Kriterien gebunden. Behandelnde entscheiden nicht allein über eine Zwangsmaßnahme, sondern es bedarf weiterhin der Genehmigung des Betreuungsgerichts. Und: Niemand kommt nach Hause und verabreicht unkontrolliert Medikamente. Der Deutsche Richterbund argumentiert, dass sich im ambulanten oder teilstationären Bereich eher Möglichkeiten finden lassen, eine Zwangsbehandlung gänzlich zu vermeiden. Eine Einstellung auf ein neues Medikament bedeutet oft, dass der Betroffene für Wochen in eine Klinik muss. Andreas Brilla, Vorsitzender des Deutschen Richterbunds in Baden-Württemberg, sagt: „Menschen im Pflegeheim müssen ab und zu ertragen, dass sie die Medikamente nehmen müssen. Das bedeutet aber viel weniger Stress, als wenn sie über Wochen in die Klinik gehen.“
Das Urteil wägt sorgfältig ab
Das Urteil wägt also zwischen der staatlichen Schutzpflicht gegenüber hilfsbedürftigen Menschen und dem Recht auf deren Selbstbestimmung sehr genau ab. Sowohl bei der Anwendung als auch bei der Vermeidung von Zwang geht es um das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Das muss oberste Priorität haben. Gleichzeitig erkennt das Gericht an, dass die Situation der Betreuten entschärft werden kann, wenn zumindest der Ort des Zwangs noch frei wählbar ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil das Thema Selbstbestimmung auch in schwierigen Lebenslagen und psychischen Notlagen auf die politische Agenda gesetzt. Das ist gut so. Damit ist klar, dass Zwangsmaßnahmen zu vermeiden sind, aber auch alternative Ansätze wie die Psychosebegleitung ausgebaut werden müssen. Das ist ein positives Signal und unterstützt speziell Menschen in akuten psychotischen Krisen. Der Gesetzgeber ist nun aufgerufen, sich noch einmal mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Denn aktuell gibt es für manche Menschen eher zu wenig als zu viel Behandlung.
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