Urteil wider Überwachung: Kameras müssen aus bleiben
Göttinger Verwaltungsgericht urteilt: Polizisten dürfen auf friedlichen Demonstrationen nicht filmen.
GÖTTINGEN taz | Eigentlich ist die Rechtslage eindeutig: Die Polizei in Niedersachsen darf nur dann Bild- und Tonaufzeichnungen von einer Demonstration anfertigen, wenn es sich um eine unübersichtliche Versammlung handelt. Und wenn von dieser eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. So steht es zumindest im niedersächsischen Versammlungsgesetz. Doch die Praxis sieht bisher anders aus.
Die Videoüberwachung von Demonstrationen sei die Regel, kritisieren viele Bürgerinitiativen und Organisationen. Bei fast jeder Demonstration seien Einheiten der Polizei mit Videokameras unterwegs. Die Beamten machten dabei nicht nur Übersichtsaufnahmen, sondern filmten auch ganz gezielt einzelne Personen. Gestern hat das Göttinger Verwaltungsgerichts eine Entscheidung getroffen, die diesem Vorgehen künftig enge Grenzen setzen dürfte.
Im verhandelten Fall ging es um die Klage von Meinhart K. gegen die Polizeidirektion Göttingen (Az.: 1 A 283/12). Der 60-jährige K. hatte am 13. Juli des vergangenen Jahres an einer Kundgebung gegen den damaligen niedersächsischen Innenminister Uwe Schünemann teilgenommen. Der CDU-Politiker war zur Unterzeichnung eines sogenannten Zukunftsvertrages zwischen Kommune und Land ins Alte Rathaus der Universitätsstadt Göttingen gekommen.
Erlaubt ist der Einsatz von Videokameras bei Versammlungen unter freiem Himmel nach der Strafprozessordnung zur Verfolgung von Straftaten - aber nur, wenn es Anhaltspunkte für erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gibt. Das niedersächsische Versammlungsgesetz ist seit dem 1. Februar 2011 in Kraft, Paragraf 12 regelt die "Bild- und Tonübertragungen und aufzeichnungen".
Gelöscht oder anonymisiert werden müssen Aufnahmen unmittelbar nach Ende der Versammlung, spätestens aber nach zwei Monaten. Ausnahmen gibt es, wenn die Aufnahmen Beweismittel sind, dann müssen sie spätestens nach drei Jahren oder nach Abschluss des Strafverfahrens gelöscht werden.
Unzulässig ist grundsätzlich das Filmen von Teilnehmern, von denen keine erheblichen Gefahren ausgehen, denn das greift in die Grundrechte auf Versammlungsfreiheit und informationelle Selbstbestimmung ein. RP
Vor dem Gebäude demonstrierten 50 bis 70 Personen. Sechs Demonstranten versperrten den Treppenaufgang, den Schünemann benutzen wollte. Es kam zu Rangeleien, die Polizei drängte die Aktivisten zurück, erklärte die Versammlung im Bereich der Treppe für aufgelöst und erteilte Platzverweise. K. klagte gegen diese Auflösung der Demonstration – und gegen den Einsatz von Videokameras.
Die Polizei war mit mehr als 100 Beamten im Einsatz, einige filmten das Geschehen mit Handkameras, ein Polizist nutzte eine auf einem Fahrzeug montierte Turmkamera für die Aufnahmen. Die Justiziarin der Göttinger Polizei sah eine „Unübersichtlichkeit“ der Situation „durchaus gegeben“. Die Demonstranten hätten „Pendelbewegungen“ gemacht und immer wieder ihren Standort gewechselt, sagte sie in der Verhandlung.
K.s Anwalt Johannes Hentschel widersprach. Die Polizei habe die kleine Kundgebung auf dem Platz jederzeit im Blick gehabt. „Das ist sowas von übersichtlich da“, sagte Hentschel.
Differenzen offenbarten sich auch bei der Frage, ob von der Versammlung eine erhebliche Gefahr ausgegangen war. Ja, sagte die Justiziarin der Polizeidirektion. Die Stimmung sei „relativ aufgeheizt“ gewesen, es habe laute Sprechchöre gegen Schünemann gegeben. Außerdem sei der damalige Innenminister anderthalb Jahre zuvor an der Göttinger Uni schon einmal Ziel von aggressiven Demonstranten gewesen.
Hentschel hielt mit Passagen aus dem Einsatzbericht der Polizei dagegen, wonach der Einsatzleitung keine Hinweise auf Störungen vorlagen. Und die Parolen gegen Schünemann? Die, so der Anwalt, seien ja der Sinn der Versammlung gewesen.
Das Gericht gab der Klage von K. in dem wesentlichen Punkt statt: Die Videoüberwachung der betreffenden Demonstration sei rechtswidrig und die Situation nicht unübersichtlich gewesen, so der Vorsitzende Richter Thomas Smollich. Eine Berufung wurde nicht zugelassen.
Anders urteilte die Kammer mit Blick auf die Auflösung der Versammlung. Weil die Kundgebung faktisch gar nicht aufgelöst, sondern nur beschränkt worden sei, wies das Gericht die Klage ab.
Erst vor wenigen Wochen hatte das Göttinger Verwaltungsgericht mit einem anderen Urteil bundesweit Beachtung gefunden. Nach diesem Urteil müssen sich Zivilbeamte der Polizei in Niedersachsen, die Demonstrationen und Kundgebungen überwachen, gegenüber der Versammlungsleitung als Polizisten zu erkennen geben. Das gilt für jeden der eingesetzten Beamten.
Hintergrund dieser Entscheidung waren Aktionen der Göttinger Anti-Atom-Initiative. Seit der Atomkatastrophe von Fukushima veranstaltet die Initiative einmal im Monat eine Mahnwache in der Göttinger Innenstadt. Neben uniformierten Beamten waren meist auch Polizisten in Zivil anwesend. Sie gaben sich aber nicht als Polizisten zu erkennen, sondern tranken Kaffee oder telefonierten und erweckten so Eindruck, als seien sie nur Passanten. Gegen diese Praxis, konkret ging es um drei Mahnwachen im Herbst 2011, klagte die Anmelderin der Mahnwachen. Mit Erfolg.
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