Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Legastheniker-Vermerke zulässig
Drei ehemalige bayerische Schüler klagten gegen einen Legasthenie-Vermerk in ihrem Abiturzeugnis. Erfolg hatten sie aber nur für sich selbst.
An bayerischen Schulen leiden rund 3,4 Prozent der Schüler:innen unter Legasthenie, also unter Lese- und Rechtschreibschwäche. An den bayerischen Gymnasien beträgt der Anteil 1,8 Prozent.
Am Ende der Mittelstufe müssen die bayerischen Legastheniker:innen entscheiden, ob sie in der Oberstufe und im Abitur den so genannten Notenschutz in Anspruch nehmen. Wird der Notenschutz gewählt, bleibt die Rechtschreibung unbenotet. Im Abitur wird dann aber vermerkt: „Aufgrund einer fachärztlich festgestellten Legasthenie wurden Rechtschreibleistungen nicht bewertet.“ Ähnliche Notenschutzregeln gibt es auch in sieben anderen Bundesländern: Berlin, Brandenburg, Bremen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein.
Den Notenschutz wählen überwiegend Legastheniker:innen, die ein Studienfach mit Numerus Clausus anstreben, weil es dann auf jede Zehntel-Note ankommen kann. Die meisten Schüler:innen verzichten jedoch auf den Notenschutz, weil sie Nachteile bei der Arbeitssuche befürchten.
Kleiner Erfolg für Kläger
Die drei Kläger hatten 2010 in Bayern ihr Abitur mit guten oder sogar sehr guten Noten bestanden. Da sie Notenschutz gewählt hatten, enthielt ihr Abiturzeugnis den entsprechenden Vermerk. Da sie sich durch den Vermerk stigmatisiert fühlten, klagten sie. Der Vermerk wirke wie ein Warnhinweis.
Das Bundesverfassungsgericht stellte zunächst fest, dass Legasthenie eine Behinderung ist. Für Legastheniker gelte daher die grundgesetzliche Garantie: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
Den Notenschutz-Vermerk im Abitur hielten die Verfassungsrichter:innen dennoch für zulässig und sogar für „geboten“, denn er diene einem anderen Ziel mit Verfassungsrang: die Schulabschlüsse müssen so ausgestaltet werden, dass allen Schulabgängern entsprechend ihrer Leistungen und Fähigkeiten die gleichen Chancen für den Zugang zu Ausbildung und Beruf eröffnet werden.
Diesem Ziel diene der Legasthenie-Vermerk, weil Zeugnisse damit aussagekräftiger und vergleichbarer werden, betonen die Richter:innen. Wenn eine eigentlich zu prüfende Teilleistung – die Rechtschreibung – nicht bewertet wird, müsse dies im Abiturzeugnis vermerkt werden. Auch in Zeiten von digitalen Rechtschreibprogrammen sei Legasthenie eine Beeinträchtigung, weil im Beruf manchmal auch handschriftlich geschrieben werden muss und es auch auf die Fähigkeit, schnell zu lesen, ankommen kann.
Verhältnismäßig seien die Legasthenie-Vermerke aber nur, so das Urteil, solange die Schüler:innen selbst wählen können, ob sie den Notenschutz in Anspruch nehmen. Sie könnten dann selbst entscheiden, ob ihnen die bessere Note oder das makellose Zeugnis wichtiger sei.
Die drei Kläger hatten dennoch Erfolg, weil 2010 in Bayern nur bei Legastheniker:innen im Zeugnis vermerkt wurde, wenn sie Teilleistungen nicht erbracht hatten. Bei Blinden, Tauben, Körperbehinderten und Autist:innen waren solche Vermerke jedoch nicht vorgesehen. Die drei Kläger seien deshalb verfassungswidrig diskriminiert worden, entschieden die Karlsruher Richter:innen, und die Vermerke müssen aus ihren Abiturzeugnissen entfernt werden.
Bayern hat allerdings bereits 2016 sein Schulgesetz und seine Schulordnung geändert. Seitdem sind in Bayern auch für andere Behinderte Zeugnisvermerke vorgesehen, wenn Teilleistungen nicht bewertet werden. (Az.: 1 BvR 2577/15 u.a.)
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