Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Es darf nicht so weit kommen
Die Richter:innen in Karlsruhe erklären in ihrem Urteil eine Triage für zulässig. Die Politik ist aufgefordert, Menschen mit Behinderung zu schützen.
D ie beste Triage ist keine Triage. Statt Diskussionen über die Auswahl der zu behandelnden Patient:innen in pandemiebedingten Notlagen zu führen, sollte der Staat zuallererst dafür sorgen, dass es gar nicht erst zu derart tragischen Engpässen kommt. Bund und Länder müssen deshalb vor allem die Pandemie wirksam eindämmen, und sie müssen dafür sorgen, dass in den Intensivstationen ausreichende Kapazitäten vorhanden sind.
Für den Fall, dass es doch zu einer Triage kommt, haben die Verfassungsrichter:innen nun aber den Bundestag in die Pflicht genommen. Er muss Menschen mit Behinderung vor einer Benachteiligung schützen, wenn es darum geht, wer noch behandelt wird und wer nicht. Dabei hat das Gericht eine Triage, also eine Auswahl, durchaus zugelassen.
Es hat nicht vorgeschrieben, dass im Ernstfall gewürfelt werden muss, sondern die Richter:innen haben das aktuell maßgebliche Kriterium der „klinischen Erfolgsaussicht“ ausdrücklich für zulässig erklärt. Bei der Triage darf die Überlebenswahrscheinlichkeit der Patient:innen durchaus berücksichtigt werden. Allerdings haben die Richter:innen sehr gut herausgearbeitet, dass es einen großen Unterschied macht, ob es auf das Überleben der konkreten Krankheit ankommt oder auf die Lebenserwartung insgesamt.
Zulässig ist nur, auf das Überleben der gegenwärtigen Krankheit abzustellen, sei es Covid-19 oder eine Lungenentzündung oder ein Herzinfarkt. Es geht um die Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass die jeweiligen Patient:innen die Intensivstation lebend wieder verlassen werden. Unzulässig wäre es nach Ansicht der Verfassungsrichter:innen dagegen, auf die Zahl der noch verbleibenden Lebensjahre oder die künftige Lebensqualität abzustellen.
Hier wären Menschen mit Behinderung benachteiligt, weil ihre Lebenserwartung tendenziell niedriger ist und weil Mediziner:innen vielleicht Vorurteile bezüglich der Qualität eines Lebens mit Handicap haben. Die Verfassungsbeschwerde war insofern erfolgreich, weil der Bundestag nun tätig werden muss. Zudem hat sie schon im Vorfeld eine gesellschaftliche Diskussion angestoßen und die zuständige Ärztevereinigung zu mehreren Klarstellungen veranlasst.
Teilweise muss der Bundestag diese notwendigen Klarstellungen nur noch mit Gesetzesautorität versehen. Positiv zu bewerten ist auch, dass das Bundesverfassungsgericht über seinen eigenen Schatten gesprungen ist. Noch im Jahr 2006 hat es im Urteil zum Luftsicherheitsgesetz entschieden, dass der Gesetzgeber nie Leben gegen Leben abwägen darf. Er dürfe also nicht den Abschuss eines entführten Flugzeugs anordnen, selbst wenn die Maschine mit Sicherheit in ein voll besetztes Stadion fliegen würde.
Nun hat Karlsruhe den Gesetzgeber sogar in die Pflicht genommen, Klarheit in der Frage der Triage zu schaffen – zumindest zum Schutz der Behinderten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?