Ursachen des Kriegs gegen die Ukraine: Das Werwolf-Prinzip
Die Suche nach den Ursachen des Ukraine-Kriegs wird künftige Historiker zur inneren Dynamik Russlands führen. Aber auch zur Politik der Nato-Staaten.
A ngenommen, wir sind im Jahr 2038, und angenommen, Historiker streiten weiterhin über die Ursachen des russischen Krieges gegen die Ukraine. Dann könnte das so aussehen:
Das erste Narrativ konzentriert sich auf die innenpolitische Dynamik in Russland beziehungsweise in der Sowjetunion und betrachtet die russische Aggression als konsequente Folge nationalistischer, kolonialistischer und imperialer Triebkräfte der Moskauer Eliten. Angefangen vom Imperialismus der Zarenzeit schlagen Historiker den Bogen zum Totalitarismus und zu den Verbrechen Stalins, bis hin zur sowjetischen Gewaltherrschaft nach dem 2. Weltkrieg und schließlich dem Revisionismus des Kreml unter Wladimir Putin, der seine Herrschaft auf Lebenszeit zementiert hat. Demnach betrachtet Putin die Auflösung der Sowjetunion als schweren Fehler und strebt die Wiederherstellung des Großmachtstatus Russlands an, unterstützt von großen Teilen der russischen Elite und der Bevölkerung, die der Staatspropaganda vertrauen. Nach innen baut er systematisch ein autokratisches Unterdrückungssystem auf und schreckt dabei nicht vor Morden an Oppositionellen im In- und Ausland zurück. Die größte Bedrohung für sein Regime sieht er in der Übertragung des westlichen liberalen Demokratiemodells nach Osteuropa.
Spätestens 2014 ist mit der Annexion der Krim und der Besetzung von Teilen des Donbass die Aggressivität der russischen Führung nach außen sichtbar geworden. Die Eigenstaatlichkeit der Ukraine lehnt Putin ab und folgt dabei einem Drehbuch, das schon seit dem russischen Krieg gegen Georgien im Jahre 2008 feststeht, auch wenn der damalige georgische Präsident Micheil Saakaschwili diesen Krieg törichterweise begonnen hatte. Seither rüstet der Kreml die Streitkräfte und die Nationalgarde mit den vom Westen aus den Energieexporten gezahlten Billionen konsequent auf. Die Entspannungspolitik und die Prinzipien „Wandel durch Handel“ oder „Stabilität durch Handel“ sind gescheitert. Die Osterweiterung der Nato hat sich im Rückblick als kluge und weitsichtige Strategie bestätigt. Ohne den Schutzschirm der Allianz hätten die drei baltischen Staaten längst ihre Unabhängigkeit verloren. Noch klüger wäre allerdings gewesen, die Ukraine und Georgien auch in das westliche Militärbündnis aufzunehmen.
Die Historiker, die das zweite Narrativ vertreten, befassen sich zunächst mit der Russlandpolitik der Vereinigten Staaten und ihrer westlichen Verbündeten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, den der Westen als Sieg im Kalten Krieg feierte und dem schließlich ohne Rücksicht auf russische Sicherheitsinteressen der Nato-Erweiterungsprozess folgte.
Helmut W. Ganser ist Brigadegeneral a. D. und war Stellvertretender Leiter der Stabsabteilung Militärpolitik im Verteidigungsministerium sowie militärpolitischer Berater des deutschen Ständigen Vertreters bei der Nato in Brüssel.
Moskau hat die Ausdehnung des Nato-Raums von Beginn an als gravierendes Sicherheitsproblem wahrgenommen und ist endgültig misstrauisch geworden, als die Nato auf ihrem Gipfel in Bukarest 2008 der Ukraine und Georgien die Mitgliedschaft grundsätzlich zusagte. Die US-Regierungen seit Bill Clinton und vor allem osteuropäische Nato-Staaten sind nie bereit gewesen, der Russischen Föderation eine ernsthafte Rolle in einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur einzuräumen. Im Nato-Russland-Rat redeten Botschafter, Außen- und Verteidigungsminister sowie Staats- und Regierungschefs schon in der ersten Dekade meist aneinander vorbei. Die Kündigung des „Anti Ballistic Missile (ABM)“-Vertrags durch Washington 2002 und der Aufbau der strategischen Raketenabwehr der USA in Europa destabilisierten die Beziehungen zwischen der Nato und Russland weiter. Moskau befürchtete schon damals, dass die amerikanische Raketenabwehr den wahren Zweck verfolge, eines Tages das russische Abschreckungspotential zu neutralisieren, was Washington allerdings stets bestritt.
Der Umsturz in der Ukraine Anfang 2014 war schließlich der entscheidende Kipppunkt zum neuen Ost-West-Konflikt. Der Kreml betrachtete den „Euro-Maidan“ als eine von den USA unterstützte Aufstandsbewegung. Aus Moskauer Sicht war die Maidan-Revolution eine weitere westliche Offensive in der geopolitischen Auseinandersetzung zwischen Moskau und Washington. Der Kreml unterstellte den USA das Ziel, Oppositionsbewegungen in Russland zu unterstützen, um auch in Moskau eines Tages einen Regierungswechsel herbeizuführen. Rund zwei Monate vor dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine wandte sich der Kreml an die USA und die Nato-Staaten mit Vertragsentwürfen, in denen es darum ging, eine Aufnahme der Ukraine in die Nato vertraglich auszuschließen, was von der Nato mit dem Hinweis auf die freie Bündniswahl und die Nato-Politik der offenen Tür zu schnell zurückgewiesen wurde. So wurde nicht ernsthaft getestet, ob Putin bereit gewesen wäre, in Verhandlungen über einen sicheren Status der Ukraine ohne Nato-Beitritt einzutreten und die Invasion zu vermeiden.
Eine dritte und wachsende Gruppe von Historikern sieht inzwischen die Ursachen für den russischen Angriff in einer Kombination aus beiden Erzählungen. Sie konzentrieren ihre Analyse auf die Interessengegensätze und die machtpolitische Rivalität zwischen den USA und Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und beziehen die einander entgegengesetzten politischen Kulturen, Wertorientierungen und die historische Entwicklung Russlands ein. Das Denken und Fühlen der Eliten in der russischen Gesellschaft ist seit Jahrhunderten durch zwei gegensätzliche Strömungen geprägt. Die Westler-Slawophilen wie Dostojewski, Turgenjew und Tolstoi haben im 19. Jahrhundert das Widersprüchliche im russischen Lebensgefühl in ihren literarischen Figuren aufleben lassen und vermutlich auch in sich selbst verspürt. Da gibt es die sanfte, empathische Seite, die sich offen zeigt gegenüber der westlichen Kultur. Doch die im 19. Jahrhundert geführte Debatte um die Frage, ob sich Russland an westlichen Werten orientieren oder einen eigenen slawischen Weg gehen sollte, geht bald in einen allgemeinen Panslawismus über.
Diese andere, dunklere russische Seite war immer präsent, von der Zarenzeit bis in die Spätphase der Sowjetunion. Kompromissloses Machtstreben, Gewalt, Empathielosigkeit und Zynismus sind für diese Haltung kennzeichnend. Während unter Michail Gorbatschow und bis etwa zum Millennium eher die emphatische, kooperative Seite dominierte, wurde die Außen- und Militärpolitik danach revisionistischer.
Einige Historiker und Literaten benutzen eine Werwolf-Metapher, um das widersprüchliche Wesen der russischen Staatsmacht zu beschreiben. Ein Veränderungsprozess ist auch in der Persönlichkeitsentwicklung von Verantwortungsträgern wie Präsident Putin und Außenminister Lawrow zu verzeichnen. Putin zeigte sich in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft ab 1999 offener für eine intensive Kooperation mit dem Westen, für Demokratie und Marktwirtschaft. Dies belegen die im Rückblick erstaunlich wirkenden TV-Aufzeichnungen seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag im Jahre 2001. Ehemalige deutsche Diplomaten, die in den 1990er Jahren den damaligen Botschafter Lawrow noch als russischen Ständigen Vertreter bei den Vereinten Nationen erlebt hatten, erinnern sich an einen heiteren Mann, mit dem sie vor allem im Sicherheitsrat produktiv zusammenarbeiten konnten. Lawrow wirkte später in seiner Rolle als langjähriger Außenminister verbittert und aggressiv, was auch auf die westliche Russlandpolitik zurückgeführt wird.
Historiker dieser dritten Schule nehmen Bezug auf die Binsenweisheit, dass Außen- und Sicherheitspolitik ein interaktiver Vorgang und der Gang der Geschichte das Ergebnis von Wechselbeziehungen zwischen Staatschefs ist. Dazu kommt innenpolitischer Druck auf die Führungspersönlichkeiten an der Spitze. Einige sehen sogar eine Dominanz der Innenpolitik, was mehr oder weniger in allen Staaten gilt.
Im Westen wollte man nicht sehen, dass der westliche liberale Demokratietransfer durch die Nato- und die EU-Erweiterung vom Kreml als langfristig angelegter geostrategischer Schachzug interpretiert wird, Russland nicht nur zurückzudrängen, sondern auch auf dessen innere Entwicklung Einfluss zu nehmen. Dies führte zu innerer Autokratisierung und Abschottung des russischen Herrschaftssystems gegen liberale Strömungen. Wie so oft in der Geschichte hat die Außenpolitik Washingtons und die anderer westlicher Staaten die „unintended effects“ ihrer Politikansätze nicht beachtet.
Moskau hat erwartet, dass ihm als atomare Supermacht Respekt und Anerkennung seiner Sicherheitsinteressen zustehen. Im Kern hat die Russlandpolitik des Westens das imperiale, gewaltbereite Potential im Verhalten der russischen Führung stimuliert. Darin liegt ein gewisser politisch-historischer Beitrag des Westens zu den Entwicklungen in Moskau, die zum russischen Krieg gegen die Ukraine geführt haben. Dies kann jedoch auch in historischer Perspektive den völkerrechtswidrigen brutalen Krieg gegen die Ukraine in keiner Weise rechtfertigen.
Auch wenn dieses dritte Narrativ die historische Debatte zu dominieren scheint, geht der Historikerstreit über die Ursachen der russischen Aggression gegen die Ukraine weiter. So wird der dritten Erzählung entgegengehalten, dass bei einer weitergehenden Einbindung Russlands in die europäische Sicherheitsordnung die imperialen Triebkräfte Moskaus weiter gewachsen wären. Alle Analysen der Vorgeschichte des russischen Kriegs gegen die Ukraine enthalten Annahmen und spekulative Elemente, zumal der Kreml die Akten über all diese Vorgänge noch nicht geöffnet hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen