Unterm Regenbogen: Gewalt mit Zuschauer*innen
Bei Angriffen auf mitfeiernde Geflüchtete schaut die Festgemeinde des Christopher Street Day in Oldenburg nur zu. Ihr Sprecher hält xenophobe Motive für „Spekulation“
Das etwa zweiminütige Video zeigt zwei Angreifer, von denen einer bedrohlich einen Gürtel in der Hand hält, so als wollte er ihn als Waffe benutzen. Es kommt zu verbalen Auseinandersetzungen, schließlich zu einem Handgemenge, in dem sich mehrere junge Erwachsene gegenseitig schubsen und treten. Aus dem Off ruft jemand mehrmals laut nach der Polizei, während der Filmer des Handyvideos mit dem Spruch „Verpiss dich mit deinem Handy, Dicker“ angegangen wird. Zuvor seien sie als „scheiß Schwuchtel“ beschimpft und mit den Worten „Ich mach euch fertig“ bedroht worden, schreiben die Betroffenen in einer Stellungnahme.
Einer der Geflüchteten sei an seine traumatischen homophoben Erfahrungen erinnert worden und habe ansehen müssen, wie seinem Freund auf den Kopf geschlagen wurde. Er habe einen Anfall erlitten und vom Roten Kreuz fast eine Stunde lang behandelt werden müssen. Der Freund sei mit einer kleinen Beule davon gekommen.
Die Angegriffenen gehören alle zu der Gruppe „Queeraspora“, die im Bremer Rat&Tat-Zentrum beheimatet ist und einen Schutzraum für queere MigrantInnen und Geflüchtete bietet. Sie kommen aus Russland, Montenegro, der Türkei oder Kurdistan und hielten auch eine Rede auf der Bühne des CSD, zu dem insgesamt 15.000 Menschen kamen. Zu sechst war „Queeraspora“ am Samstag nach Oldenburg gereist.
Der Christopher Street Day (CSD) ist ein Fest-, Gedenk- und Demonstrationstag von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern.
Er erinnert an den ersten bekanntgewordenen Aufstand von Homosexuellen und anderen sexuellen Minderheiten gegen die Polizeiwillkür in der New Yorker Christopher Street 1969.
In Deutschland fanden 1979 in Bremen und Berlin die ersten CSDs statt.
Die Oldenburger Polizei spricht von einer „Auseinandersetzung“, bei der ein 19-jähriger Beschuldigter auf einen 27-Jährigen eingeschlagen und ihn getreten habe. „Die Ermittlungen dazu laufen noch“, sagt die Polizei, die sich mit einer Bewertung ausdrücklich zurückhält: „Informationen über einen möglichen homophoben Hintergrund liegen uns derzeit nicht vor“, sagt Pressesprecher Stephan Klatte.
Auch der Pressesprecher des CSD Nordwest, Kai Bölle, möchte die Motive und Auslöser des Vorfalls angesichts laufender Ermittlungen „nicht bewerten“. Dass der Übergriff einen homophoben oder ausländerfeindlichen Hintergrund habe, sei derzeit „reine Spekulation“, sagt Bölle. Auch fehlende Zivilcourage wolle er niemandem vorwerfen – vor Kurzem habe der Versuch einer Streitschlichtung in Oldenburg tödlich geendet.
Es gebe immer wieder „gewalttätige Auseinandersetzungen“ auf dem CSD in Oldenburg, sagt Bölle. Zum Teil handele es sich dabei um Beziehungstaten oder solche, bei denen Alkohol im Spiel sei. Auch Beleidigungen während des CSD seien immer wieder zu hören. „Deswegen machen wir ihn ja“, sagt Bölle, der den Vorfall bedauert.
Die Gruppe „Queeraspora“ in einer Erklärung
Die Polizei vermeldete gestern vom CSD noch eine „wechselseitig begangenen Körperverletzung zwischen zwei 17 und 21 Jahre alten Frauen“, bei der eine der beiden eine Kratzwunde im Gesicht und die andere eine leichte Augenverletzung davontrug. Sonstige Vorfälle seien nicht bekannt, teilte die Polizei mit.
Ein Sprecher der Gruppe „Queeraspora“ findet es „unglaublich und perfide“, den Übergriff nicht als homophob einzustufen und fühlt sich nicht nur von der Polizei im Stich gelassen, sondern auch von den umstehenden Menschen: „Es ist nicht klar, welches ignorante und unsolidarische Motiv die restlichen BesucherInnen hatten, ob es Angst oder Desinteresse war“, schreibt die Gruppe in ihrer Erklärung. Fakt sei, dass mitten auf dem CSD vor allen Leuten ein homophober Angriff auf eine queere Gruppe stattgefunden habe. „Und dass es, bis auf ein paar wenige, keinen anderen interessiert hat.“ Die notwendige Hilfe, die sich die Gruppe erhofft habe, sei nicht gekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind