Unterdrückung in orthodoxer Gemeinschaft: Eine ezidische Rebellin
Die Freiheit ezidischer Frauen ist eingeschränkt. Yasemin, eine junge Ezidin, spricht über diese Unterdrückung und wie sie sich von ihr befreite.
Seit fast drei Jahren bezieht sie nun ihre erste eigene Wohnung im sechsten Stock eines Hochhauses in Duisburg. Gleich zu Beginn gibt sie zu verstehen, dass ihr neues Zuhause in keiner Weise mit dem prächtigen Haus ihrer Eltern vergleichbar sei. Doch für sie habe das Materielle an Bedeutung verloren. An oberster Stelle stehe ihre erkämpfte Freiheit – ein Gut, das für sie unbezahlbar ist.
Diese langersehnte Freiheit hat eine bittere Vorgeschichte: Die 31-jährige Sachbearbeiterin habe immer versucht, die Konventionen ihrer ezidischen Glaubensgemeinschaft zu befolgen. Von klein auf wurde ihr eingetrichtert, dass sie jungfräulich in die Ehe zu gehen habe und dass sie einen Eziden heiraten müsse. Andere Glaubensrichtungen sind in ihrer endogamen Gemeinschaft tabu.
Sie funktioniert nur noch
Männer dürften alles und werden zu kleinen Halbgöttern erzogen, während Frauen in allen Lebensbereichen eingeschränkt und auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereitet würden. Wohl fühlte sie sich nie, doch Yasemin weiß, welche Konsequenzen Frauen drohen können, die gegen die Traditionen verstoßen: der Tod. Aus diesem Grund entschließt sie sich, einfach nur zu funktionieren, um zu überleben, obwohl sie weiß, dass sie so niemals glücklich werden kann. Yasemin erzählt, dass ihr Leben zum Alptraum wurde.
Als Yasemin 14 Jahre alt ist, flüchtet ihre Schwester von zu Hause, weil sie mit einem muslimischen Mann zusammen sein will. In den Augen der streng orthodoxen Gemeinschaft gilt dies als das schwerstes Vergehen, beschreibt sie.
Das Ezidentum ist eine ethnisch-religiöse Gruppe mit sehr strengen Endogamiegeboten. Es ist nicht nur verboten, außerhalb der Gemeinschaft zu heiraten, es gibt zudem auch ein Kastensystem, das vorsieht, sich nur innerhalb der eigenen Kaste zu vermählen. Zum Ezidentum zu konvertieren, ist nicht möglich. Ezide wird man nur durch Geburt.
Doch Yasemin verachtet diese Regeln. Sie erkennt zwar an, dass die ezidische Geschichte von Verfolgung, Vertreibung und Völkermord geprägt ist und diese Regeln eingeführt wurden, um die Gemeinschaft vor der Übernahme durch feindliche Religionen zu schützen, denn auf diese Weise sollte das Ezidentum bewahrt werden. Gleichzeitig bedeuten die Regeln für sie auch Kontrolle – vor allem der Kontrolle ihres weiblichen Körpers und ihrer Sexualität.
Ohne Jungfräulichkeit wertlos
Auch Yasemins ältere Schwester wagt es, sich dagegen aufzulehnen. Sie konvertiert sogar zum Islam. Ihr „Fehlverhalten“ führt dazu, dass die gesamte Familie Toprak von der ezidischen Gemeinschaft verstoßen wird. Die junge Frau erinnert sich sehr genau an diese schwierige Zeit. Einige Verwandte wechseln kein Wort mehr mit ihrer Familie und auch Hochzeitseinladungen bleiben aus.
Dieses Ereignis traumatisiert Yasemins Eltern, sodass sie ihren Kontrollzwang auf sie ausweiteten. Das Ziel der Eltern: eine anständige Tochter zu erziehen. Zunächst scheint es auch so, als sei ihnen das geglückt, denn Yasemin verlobt sich mit einem ezidischen Mann.
Er überzeugt sie davon, dass sie miteinander schlafen können – schließlich würden sie ohnehin bald heiraten. Doch als aus dem Umfeld des Verlobten alte und bereits auf Yasemins Social-Media-Accounts gelöschte Bikini-Bilder von ihr auftauchten, trennt er sich von ihr.
Für Yasemin bricht eine Welt zusammen. Sie hinterfragt ihr ganzes Leben, weil ihr das bis zu diesem Zeitpunkt wichtigste, nämlich ihre Jungfräulichkeit, genommen wurde. Sie weiß, dass Männer Frauen darauf reduzieren. Ohne den jungfräulichen Status fühlt sie sich wertlos.
Ein blutiges Laken
Yasemin erzählt von der Tradition, einer ezidischen Braut an ihrem Hochzeitstag ein rotes Band umzulegen, das ihre Jungfräulichkeit symbolisieren soll. Daraus entstehe für viele Frauen ein Druck, in der Hochzeitsnacht bluten zu müssen. Yasemins Meinung ist eindeutig: „Für mich ist das eine geplante Vergewaltigung, denn die Frau muss in dieser Nacht Sex haben, und sie muss bluten.“
Am nächsten Tag muss das blutige Laken oft der Tante der Braut übergeben werden. Yasemin selbst habe bei ihrem ersten Mal nicht geblutet und weiß, dass ihre Kultur an einem Mythos festhält. Dieser Irrglaube gefährde das Leben von Frauen.
Vor dem Hintergrund, dass ihrer Gemeinschaft biologische Tatsachen gleichgültig seien, fragt sie sich, nachdem sie verlassen wurde: „Welcher Mann würde mich noch heiraten wollen?“ Auch die ablehnende Haltung der Eltern, die ihre Tochter allein für die geplatzte Verlobung verantwortlich machen, trägt dazu bei, dass sich Yasemins psychische Stimmung verschlechtert.
Die junge Frau erzählt, dass sie als letzten Ausweg in Betracht zog, Suizid zu begehen, und dass sie bereits vor einer Brücke stand, um sich das Leben zu nehmen. Auch wenn sie diesen Schritt nicht wagte, verfolgen sie seitdem Depressionen.
Sex, Party und Alkohol
Auf diesen Tiefpunkt folgt ein Paradigmenwechsel in Yasemins Leben, der einen schleichenden Bruch mit den orthodoxen Traditionen einleitet. Sie fragt sich: „Warum soll ich mich für meine Familie aufopfern und meine Bedürfnisse hintanstellen, wenn ich am Ende keinen Rückhalt bekomme?“
Die fehlende Unterstützung nimmt Yasemin zum Anlass, um Distanz gegenüber den ezidischen Wertvorstellungen zu entwickeln und zur geheimen Rebellin zu werden. Schließlich sei sie keine Jungfrau mehr und habe somit nichts mehr zu verlieren. Sie fängt an, ein Doppelleben zu führen und eine Lüge aufrechtzuerhalten.
Zu Hause vor ihrer Familie gibt sie sich weiterhin als fromme und konservative Frau ab, während sie außerhalb der eigenen vier Wände das Gegenteil lebt: Sex, Party und Alkohol. Yasemin schaut aus dem Fenster und gibt zu verstehen, dass dieser Schritt nicht einfach war. Sie gibt zu: „Selbst beim Sex denke ich an meine Familie.“ Die Schuldgefühle lassen sie bis heute nicht los.
Doch als sie im Jahr 2021 von ihrer jüngeren Schwester im Podcast „1Live Intimbereich“ entdeckt wird, fliegt Yasemins Lügengerüst auf. Dort spricht die junge Frau über das absolute Tabuthema Sex. Yasemin regt sich darüber auf, dass ihr Ex-Verlobter ihre Jungfräulichkeit anzweifelte, weil sie bei ihrem ersten Mal nicht blutete. Die Schwester gibt den Inhalt der Folge an ihre Eltern weiter.
Obdachlos, arbeitslos und allein gelassen
Der Horror wurde damit eröffnet. Der Vater kochte vor Wut und wollte auf die zu der Zeit an Depressionen leidende Yasemin einschlagen, erzählt sie. „Warum hast du dich nicht damals einfach umgebracht?“, brüllt er sie an. Der Vorwurf des Vaters sei eindeutig: Seine Tochter habe die Ehre und das Ansehen der Familie beschmutzt und das sei wichtiger als das Leben seiner Tochter.
Ihre Eltern setzten Yasemin vor die Tür – das mitten im Corona-Lockdown. Obdachlos, arbeitslos und allein gelassen, läuft die 29-Jährige durch die Gegend. Ihre erste Nacht verbrachte sie auf einem Spielplatz. Dann schlief sie vier Tage im Obdachlosenheim und ein paar Monate bei Freunden, bis sie eine eigene Wohnung fand. Auf die Frage, was sie verbrochen habe, antwortet Yasemin: „Ich habe außerehelichen Sex gehabt.“
In Deutschland leben etwa 200.000 Eziden – es ist ein sehr kleiner Kreis, erklärt Yasemin. Deshalb sei es auch nicht schwer, herauszufinden, welche Tochter in diesem Podcast mit einem Tabu bricht. Yasemins Geschichte verbreitet sich in der ezidischen Community wie ein Lauffeuer. Ihre Familie schämt sich.
Die Beleidigungen reichen von „Hure“, „Schlampe“, „Nutte“ bis hin zu Vorwürfen wie: „Nur weil du für jeden deine Beine breitmachen willst, musst du nicht versuchen, andere Frauen zu verderben.“ Mehrere Anhänger ihrer Glaubensgemeinschaft schreiben ihr, sie sei keine Ezidin mehr, weil sie vor der Ehe Sex hatte. „Seit wann kann dir ein Schwanz deine Religion nehmen?“, empört sie sich.
Drohungen der Familie
Heute ist Yasemin mit über 70.000 Followern erfolgreiche Tiktokterin und versucht auf der Plattform, die Missstände in ihrer Community zu thematisieren. Frech und aufgedreht beschwert sie sich über schlechten Sex und spricht offen über ihre psychische Gefühlslage. Yasemins Netzaktivitäten blieben von ihrer Familie nicht unkommentiert. „Lösch deinen Twitter-Account, sonst bringe ich dich um“, schrieb ihr einmal ihr Vater in einer Mail.
Viele Frauen aus ihrer Gemeinschaft wenden sich mit ähnlichen Problemen an sie. Sie seien zu Hause gefangen und wissen nicht weiter. Yasemin möchte ein Vorbild sein und sie ermutigen, diese misogynen Strukturen zu hinterfragen und mit ihnen zu brechen. Schließlich bedeute der Verlust der Familie auch einen großen Gewinn: das Recht auf ein freies und selbstbestimmtes Leben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen