Unter denen, die das Glück suchen: Europa to go
Die EU verspricht Wohlstand für alle. Aber kann sie das auch halten? Eine Busfahrt von Stuttgart ins kroatische Hinterland.
Die junge Frau auf dem Sitzplatz neben mir sieht aus, als würde sie nachdenken. Seit drei Stunden sieht sie so aus. Als ich ihr das sage, antwortet sie, sie denke auf einem Satz herum: „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“, das Glück klingt wie Gluck. Sie hat die Beine angezogen, ihren grauen Wollpulli über die Knie gestülpt und die Arme um sich geschlungen. Den Satz hat sie von ihrem Chef, sie weiß nicht so richtig, was er bedeutet.
Es ist 4 Uhr nachts, und unter den Rädern des grünen Doppeldeckers liegt die A10. Deutschland im Rücken, der östlichste Zipfel von Kroatien noch mehr als zwölf Stunden entfernt. Gesichter hängen auf Schultern, vereinzelt brennen Leselampen. Zwei Männer schnarchen im Kanon.
Ich fahre von Stuttgart in Richtung Štitar. Viel S, viel t – das ist auch das Einzige, was diese beiden Orte gemeinsam haben. Seit 26 Jahren fahre ich diese Strecke, früher im Kindersitz auf der Rückbank meiner Eltern, dann im weißen Čazmatrans-Omnibus, heute im Flixbus. Dieses Mal werde ich nicht in Županja aussteigen, von wo aus es nur noch wenige Kilometer bis Štitar sind, sondern erst zwei Stationen später, in Vukovar. Endstation, hinterstes Hinterland, nur die Donau trennt Kroatien hier von Serbien.
Seit 2013 sind meine deutsche und meine kroatische Heimat im gleichen Verein. Und der heißt: Europäische Union. In Kroatien, dem jüngsten Mitgliedsland der EU, wächst eine Generation auf, die den Jugoslawienkrieg nur aus Erzählungen kennt. Junge Menschen, die früh die Möglichkeit bekommen haben, legal in Deutschland zu arbeiten.
Vor allem im kroatischen Hinterland gibt es kaum Arbeit. Die Menschen verlassen ihre Dörfer, brechen auf, um in Deutschland, Österreich und anderen Ländern nach einer Zukunft zu suchen. Früher hießen sie Gastarbeiter, heute nennt man sie Arbeitsmigranten. Allein 2017 haben 80.000 Menschen Kroatien verlassen. 10 Prozent aller Kroaten, 400.000 Menschen, leben in Deutschland, 90.000 in Österreich, 80.000 in der Schweiz. Die meisten Auswanderer stammen aus Slawonien, einer Region im Osten Kroatiens, die an Südungarn, Bosnien und Serbien grenzt.
Von dort kommt mein Vater. Und dort wird diese Busreise enden.
Ich kenne die Aus-Frust-wird-Hoffnung-Geschichten aus meiner Familie. Mein Vater kam 1987 durch den Fußball nach Stuttgart, spielte in einem deutschgriechischen Verein und arbeitete nebenher schwarz in einem griechischen Restaurant, das dem Cousin eines Cousins eines Vereinskollegen gehörte. Danach arbeitete mein Vater als Dachdecker, später bei Daimler. Seit über 30 Jahren ist er in Deutschland.
Mein kroatischer Cousin ist vor zwei Jahren mit seiner Frau nach Süddeutschland ausgewandert, die 500 Euro Gehalt von seinem Job im Sägewerk von Štitar boten keinen Platz für Träume – dabei waren seine Träume wirklich nicht groß: einen eigenen Tisch und dann Kinder, die ihre Füße darunterstrecken können. Seine Mutter, meine Tante, pflegt alte Menschen in Österreich, pendelt im Vierwochentakt zwischen den Welten. Onkel, Tante, Tante sind weg, samt Familie, nach Slowenien, Bosnien und in die Schweiz. Nur eine andere Tante hatte Glück, sie arbeitet bei der Stadt Štitar.
Mein kleiner Cousin versteht schon lange nicht mehr, warum ich zu Besuch komme. „Was willst du hier in diesem Loch?“, fragt er, wenn ich mal wieder an seine Tür klopfe.
Štitar, das Dorf, in dem meine Familie lebt, wirkt jedes Mal, wenn ich zu Besuch komme, mehr wie die Kulisse eines schlechten Films. Der nächste Nachbar weg, die Fenster verrammelt, das Vieh verkauft. Auch viele junge Menschen, mit denen ich früher Melonen geklaut und Hühner gejagt habe, wandern aus. Es hat gedauert, bis ich begreifen konnte, dass alles, was ich an diesem kleinen Dorf so liebe, für die Menschen, die dort leben, nicht unbedingt cool ist. Wenig asphaltierte Wege, kaum Handyempfang, letztes Jahr erst ans kommunale Wasser angeschlossen. Keine Industrie, keine Touristen, keine Arbeit.
In Kroatien überprüft gerade eine ganze Generation – meine Generation – das Versprechen der Europäischen Union: In der EU gibt es Arbeit, in der EU gibt es eine Zukunft. Aber hält die EU diese Versprechen? Liefert sie Wohlstand, Sicherheit, Solidarität? Und glauben die Passagiere im Flixbus N952 daran?
0.30 Uhr, Stuttgarter Flughafen
Der Parkplatz, der Busbahnhof genannt werden will, sieht Ende November aus wie eine Kuchenplatte nach einer Fressattacke. Vereinzelt liegen Leute auf Bänken und schlafen, ein verwaister Koffer steht vor dem Snackautomaten, der nur noch Haribo-Lakritz hat. Am Bahnsteig 15 leuchtet in dämmrigem Grün: N952 Richtung Vukovar.
Seit dem Sommer 2016 startet jeden Abend um 21.10 Uhr ein Doppeldecker der Firma Flixbus vom Frankfurter Hauptbahnhof über Stuttgart, München und Ljubljana nach dem kroatischen Hinterland. Wenn man die Haltestellen zählt, liegt Zagreb genau in der Mitte. Auf der Karte kommt rechts davon nicht mehr viel. Die Städte werden kleiner und die Abstände zwischen den Häusern am Straßenrand größer.
Am Bahnsteig 15 steht eine Handvoll Menschen im Kreis. Aus der Entfernung hört man nur kroatisches Gemurmel und sieht Zigarettenqualm aufsteigen. Eine junge Frau mit Bommelmütze zerrt ihren prallen Koffer über den Asphalt. Ihre Nase rot von der Kälte, ihr Gesicht erschöpft. Sie steuert auf den Kreis zu und stellt sich mit einer Selbstverständlichkeit daneben, als ginge es jetzt auf Klassenfahrt. Die Fremden rücken auf, machen Platz für den Neuankömmling. „Arschkalt, hm?“, sagt ein Mann zur Begrüßung auf Kroatisch, die junge Frau antwortet: „Total.“ Und die Sache ist geritzt.
Eine Zigarette später fährt der Bus ein, Taschen werden in den Kofferraum gehievt. Der Busfahrer, der aussieht wie jemand, dessen Tochter man lieber nicht das Herz bricht, begrüßt jeden mit einem kurzen Nicken. „Willkommen im Flixbus auf der Fahrt nach Vukovar“, knirscht es kurze Zeit später durch den Lautsprecher. Die deutschen Wörter klingen ein wenig aufgeraut, nur das Wort Vukovar klingt so, als würde sich der Busfahrer darin zu Hause fühlen.
4.10 Uhr, österreichisches Grenzgebiet
Meine Sitznachbarin, die nicht so genau weiß, was das mit dem Schmied und dem Glück bedeuten soll, arbeitet seit drei Jahren in der Küche einer Gaststätte in der Nähe von Stuttgart, 1.150 Kilometer entfernt von ihrer Heimat Vukovar. Sie ist 25 Jahre alt, ein Jahr jünger als ich. Ihre Mutter hat fünf Jahre als Pflegerin in Österreich gearbeitet, erzählt sie. Ich denke an meine Tante und sage: „Harter Job.“ Meine Sitznachbarin nickt und sagt: „Harter Job.“ Irgendwann konnte die Mutter nicht mehr. Dann war sie dran.
Sie ist das älteste von vier Kindern, war in der Schule gut in Deutsch, und die Familie brauchte das Geld. Der Vater kam 1992 aus dem Krieg als ein anderer zurück. „Er kann nicht mehr arbeiten“, sagt sie. In Deutschland hat sie zum ersten Mal von etwas gehört, das nach Post und Traum klingt. Posttraumatische Belastungsstörung. Sie glaubt, dass ihr Vater das hat.
2015 kam sie, die ausgebildete Krankenschwester, nach Deutschland. Heute, drei Jahre später, denkt sie, dass sie zurück nach Hause will. Und gleichzeitig fragt sie sich: „Können meine Eltern alles bezahlen, wenn ich ihnen kein Geld mehr aus Deutschland schicken kann? Ne znam“ („ich weiß es nicht“), diese zwei kleinen Wörter klingen erschöpft. Von ihrem Gehalt schickt sie ihren Eltern jeden Monat 500 Euro. Das ist derselbe Betrag, den ich jahrelang monatlich als Unterstützung von meinen Eltern bekommen habe. Ich sage das nicht laut.
Und dieses Sprichwort? Wieso hat ihr Chef das gesagt? Vor zwei Tagen ging sie in der Mittagspause zu ihm und sagte: „Ich habe Heimweh.“ – „Das verstehe ich“, sagte er. – „Ich überlege, zurückzugehen, also ganz und für immer“, sagte sie, die sich fast nicht getraut hätte, überhaupt etwas zu sagen. Der Chef sagte: „Okay“, und „jeder ist seines eigenen Glückes Schmied.“
Sie schaut wieder aus dem Fenster, wo jetzt die österreichischen Berge in der Dunkelheit vorbeihuschen. Es nieselt. Ich denke: Jeder ist für sein Glück selbst verantwortlich – das klingt so, als hätte jeder die gleichen Chancen. Ich schaue meine Sitznachbarin an, und auf einmal kriecht die Scham in meinen Kopf. Weil ich immer „wir Kroaten“ denke und sage. Ich, mit meinem Das-Beste-aus-zwei-Welten-Leben. Sie sagt: „Lass uns ein bisschen schlafen.“ Und ich sage: „Okay.“
5.05 Uhr, auf der A10 Richtung Slowenien
Noch drei Stunden bis Ljubljana. Seit zehn Minuten ruckle ich so leise wie möglich an meinem Sitz, nichts ist bequem. Ich bin genervt, aber nicht davon. Mein Jetzt-Ich findet mein Vor-fünf-Stunden-Ich zum Kotzen, wie es da in Stuttgart in diesen Bus steigt, sich wie die Botschafterin der Kroaten fühlt und denkt, mit diesem Text kann man den Deutschen mal zeigen, wie „wir Kroaten“ die Sache sehen.
Ich fühle mich blöd, weil ich immer wieder in dieses Denken rutsche, obwohl ich es besser weiß. Und ein bisschen einsam. So wie damals, als ich zum ersten Mal verstanden habe, dass ich weder ganz deutsch noch ganz kroatisch bin.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Ich war eines dieser Kinder, deren Nachname nie richtig ausgesprochen wurde. Ein verhuschtes „Sara Tomsick, spricht man das so?“ war die Regel. Ich bin ein Arbeiterkind mit Migrationshintergrund. Untere Mittelschicht. In Deutschland geboren, in einem liebevollen Elternhaus aufgewachsen, wo immer versucht wurde, alles möglich zu machen. Abitur, Studium, der Weg in einen Beruf, der mich bereichert.
Zu Europa hatte ich immer schon einen ambivalenten Bezug. Wenn mein kroatischer Onkel bei einer Zigarette über die EU schimpfte, konnte ich jedes seiner Worte fühlen. Gleichzeitig saß ich im Politikunterricht der Schule, völlig entflammt für diese Idee eines geeinten Europas, die da als Mindmap an der Tafel stand. Vielleicht ist das der Unterschied zwischen Theorie und Wirklichkeit.
Gleichzeitig fühlt man sich dem Schwächeren immer mehr verbunden. Und in diesem Europa waren und sind das die Kroaten. Ich wollte eine von ihnen sein. Ich wollte genauso hart im Nehmen sein. Nur gab es in meinem Leben nichts, was ich hart hätte nehmen können.
Als Teenager ging ich meinem kroatischen Onkel auf die Nerven, weil ich ständig seinen Stall ausmisten wollte. Ich machte es schlecht und verschreckte die Viecher. Aber in meinem Kopf war das Erdung, echtes Leben, was mit den Händen machen. Meine Familie ließ mich gewähren und erklärte mir immer wieder sehr geduldig, dass dieses „echte Leben“ im abgeschnittenen kroatischen Hinterland auch hart und anstrengend und ätzend sein konnte.
Ich, stolz auf meine Wurzeln, schlappte dreimal im Jahr nach Štitar, atmete tief ein, weil es nach Kuh und Mutter Natur roch, und konnte nach drei Wochen wieder gehen. Bevor die Flut kam oder die Dürre oder einfach nur das Monatsende. Das hat mir niemals jemand vorgehalten, aber irgendwann, als ich dieses Privileg selber begriff, war das nicht so einfach. Ich beschloss, ab sofort zu sagen: Ich bin Halbkroatin. Aus Respekt.
Im N952 schaue ich Lkw-Lichtern nach, zähle rote Autos und überlege, was das Wir-Kroaten-Ding mit dem Wir-Europäer-Ding zu tun hat.
Mit dem EU-Beitritt hat sich einiges verändert, aber einiges blieb auch gleich. Es gibt jenseits der Touristenhotspots kaum Arbeit. Die Jugendarbeitslosigkeit in Kroatien liegt bei 23 Prozent und beschert dem Land direkt nach Griechenland, Spanien und Italien Platz vier im Europaranking.
Auf Platz 6A sitzt eine junge Frau, die gerade 18 geworden ist und aussieht wie Nena im gleichen Alter. Woher sie kommt? Sie war in Frankfurt, Freunde besuchen. Was sie von der EU hält? „Super, ich kann mir das Geld für einen Reisepass sparen, ist ja auch nicht gerade billig“, sagt sie und lacht. Auswandern? „Auf keinen Fall.“
Neben ihr sitzt ein Mann, Anfang 30: „Die EU? Pfff.“ Wieso pfff, will ich wissen, aber da sitzen seine Kopfhörer auch schon wieder auf den Ohren.
6.50 Uhr, die Sonne geht auf
Irgendwo zwischen Österreich und Slowenien kleben Gesichter an Fensterscheiben. Die roten Ziffern der Digitaluhr im Bus wirken wie eingefroren. Eine Frau streckt die Arme an die Decke, ihre schwarz lackierten Fingernägel krabbeln über das Plastik der Lüftung und machen ein Geräusch, das in den Zähnen zieht. Sie stöhnt. Ich auch.
Der junge Mann auf Sitz 4C, kantiges Gesicht, rote Manchester-United-Trainingsjacke, tippelt unruhig mit seinen Beinen auf und ab. Er sieht aus wie ein Süchtiger, der schon lange nicht mehr hat. Raucher kennen dieses Tippeln. Er steht auf, hangelt sich durch den schwankenden Bus zum Fahrer nach vorne. 20 Minuten später stehen acht Männer auf einem Parkplatz im Kreis und rauchen.
Ein Mann mit grauen Haaren und einer Brille, die ständig von der Nase rutscht, will wissen, was der mit der Trainingsjacke in Deutschland gemacht hat.
„Fußball.“
Ein Vertrag in der Kreisliga, letzte Woche abgelaufen. Der Grauhaarige nickt wissend. Auch er kam durch den Fußball nach Deutschland, damals.
Der junge Mann in der Trainingsjacke ist 25 Jahre alt und angepisst. Sagt, dass der Fußball sein Leben ist, seine Eintrittskarte nach Deutschland, in ein besseres Leben. Sagt, dass er bleiben wollte.
Was in Amerika die Geschichte vom Tellerwäscher ist, ist in Kroatien die des Fußballers. Auch Niko Kovač, Bayern-Trainer und bekanntester Kroate in Deutschland, hat das einmal im Interview gesagt. Manchmal geht der Plan auf, manchmal auch nicht.
Als ich den Fußballer frage, ob er an die Idee von Europa glaubt, zieht er nur eine Augenbraue hoch: „Hä?“ Ich denke: Ja, stimmt. Hä. Und frage nicht weiter nach. Dann schiebt er hinterher: „Die EU ist schon nicht schlecht. Meine Geschwister sind auch ausgewandert.“ Da ist es: das, was die EU möglich macht.
Seine Schwester und sein Bruder, beide älter als er, sind nach Irland gegangen. Beide haben studiert, sie BWL, er Tiermedizin. Und nun? „In Dublin arbeiten beide bei Burger King. Sie sind glücklich da“, sagt der Fußballer und wischt sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Die Farbe des Manchester-United-Wappens ist schon abgeblättert.
Kurz bevor er aussteigt, wird der grauhaarige Mann mit der Brille mich zu sich heranwinken und flüstern: „Im Sommer 89 spielten wir um den dritten Platz in der Kreisliga. In der zweiten Halbzeit machte es Plopp. Kreuzband gerissen.“ Seine Stimme wird noch leiser: „Seitdem putze ich Klos in einer Autobahnraststätte. Ich wollte das vorhin nicht erzählen, der Junge soll noch Hoffnung haben.“
11 Uhr, slowenisch-kroatische Grenze
Durch das Wageninnere zieht ein Schwall Männerdeo, das Frische vorgaukeln soll. Auch der Busfahrer ist übermüdet. „Aussteigen, bitte die Papiere bereithalten!“, schreit er ungeduldig in sein Mikrofon. Erst auf Kroatisch, dann auf Deutsch, die englische Version kürzt er ab auf ein einziges Wort: „Passportcontrol!“ Es klingt nach einem russischen Schimpfwort.
Alle stellen sich auf, es werden blau-rote Ausweise aus Taschen geholt. Mein Pass ist der einzige weinrote. Ich bilde mir ein, dass die Farbe total dekadent aussieht. Einer der mächtigsten Pässe der Welt. Die Schlange, in der ich stehe, ist mehrspurig, so, wie es Deutsche gar nicht gerne sehen. Der slowenische Grenzbeamte nickt und nickt und nickt und wünscht eine gute Reise. An der kroatischen Grenze das gleiche Spiel. Nicken, nicken und: „Willkommen zu Hause.“
11.20 Uhr, es wird laut in der letzten Reihe
So, wie früher beim Klassenausflug die coolen Kids hinten saßen, so sind es heute die politisch Empörten. Fünf Männer sitzen in Reihe 20, Mitte 40 bis Mitte 50, alle haben Hände, die harte Arbeit verraten. Sie diskutieren lautstark, sind alle einer Meinung und aufgebracht. Man hört Wörter wie Ausbeutung, Drecksarbeit, ausbluten.
Mit ausbluten ist Kroatien gemeint, mit Drecksarbeit die Arbeit, die in Deutschland keiner machen will und die darum von Kroaten und anderen Migranten übernommen wird. Und Ausbeutung wirft man dem reichen Deutschland vor.
Hier im Bus sind solche Sätze möglich. In der Öffentlichkeit will keiner laut über seinen Arbeitgeber oder die EU schimpfen, man ist schließlich abhängig. Und will vor allem kein Mitleid. Stolz und Scham schließen sich eben nicht aus.
Zwei Reihen weiter vorne, auf Platz 18D, dreht sich eine junge Frau um. Rote Haare, freches Grinsen, Rote-Zora-Style. Sie ist in Frankfurt eingestiegen, bleiben wird sie bis Zagreb, von dort geht es weiter ans Meer. Sie war nur zu Besuch bei Freunden, mit der Idee vom Auswandern ist sie schon lange fertig.
2015 hat sie es für ein Jahr probiert. Hat in Reutlingen in der Gastronomie gearbeitet. Sie, die ausgebildete Köchin, spülte Teller. Der Chef sagte anfangs, sie könnte aufsteigen, nach der Probezeit vielleicht auch kochen. Sie blieb ein Jahr, kochen durfte sie nicht.
Eines Tages hörten ihre Hände beim Spülen nicht mehr auf zu zittern, ihr kamen die Tränen. Fragt man sie heute, was genau der Grund für ihre Rückkehr war, kann sie es nicht sagen. Wie erklärt man Heimweh? „Es hat einfach wehgetan, so weit von zu Hause entfernt zu sein“, sagt sie. Was sie in Deutschland hatte, war Arbeit, aber kein Leben.
Die Hälfte ihrer Klassenkameraden von früher sei mittlerweile ausgewandert. Einige mit der Familie, andere allein. Alle paar Monate kommt sie zu Besuch in ihr Heimatdorf, in dem immer mehr Häuser leer stehen. Ihre ehemalige Schule hat Mühe, eine Klasse mit 30 Schülern zusammenzubekommen. Als sie selbst klein war, gab es sechs Klassen à 30 Schüler.
„Mit ausbluten haben die Männer recht“, sagt sie, „was soll aus Kroatien werden, wenn jeder geht?“ Sie nickt in Richtung der Empörten aus Reihe 20: „Das ist Europa.“
Mittlerweile ist es Nachmittag. Vor dem Fenster haben die Hochhäuser der Hauptstadt dem kroatischen Flachland Platz gemacht. Weite braune Felder, vereinzelt unverputzte Häuser. Im Bus gehen Kekse rum, Vollkorn von Leibniz. Jemand hat kroatische Musik auf dem Handy angemacht. Eine Frau ruft: „Macht das leiser, ihr Affen!“ Zwei junge Männer stehen auf und tanzen durch den Flur, die Musik wird lauter anstatt leiser. Eine ältere Dame in Reihe 10 klatscht in die Hände, neben ihr kruschtelt ein Mann nach dem letzten Keks.
„Leute, kennt jemand von euch den Polizeipräsidenten?“, ruft der Busfahrer in sein Mikrofon. „Nein? Dann gilt auch in diesem Bus Anschnallpflicht. Zurück auf die Plätze.“ Man kann sein Lächeln hören. Leises Murren und lauter Applaus für die Tänzer, die Show ist vorbei.
16.45 Uhr, Endstation in Vukovar
16 Stunden und 15 Minuten nach der Abfahrt aus Stuttgart sind wir am Ziel. Vor fünf Stunden ist die rote Zora ausgestiegen, vor zwei Stunden der Fußballer. Nur noch meine Sitznachbarin, drei ältere Männer und ich sitzen im Bus. Der Busbahnhof, ein verrostetes Stahlskelett, ist voll, als wir ankommen. Alle raus, der Busfahrer stöbert nach den Koffern. „Hat jeder seine Sachen?“, ruft er. Keiner widerspricht, Kofferraum zu, ein Winken. Feierabend.
Meine Sitznachbarin und ich rauchen eine letzte Zigarette. „Was heißt eigentlich dieses Sprichwort auf Kroatisch übersetzt?“, fragt sie. Jeder Mensch ist seines eigenen Glückes Schmied. Es bedeutet, dass jeder selbst für sein Glück verantwortlich ist, sage ich. Beide Augenbrauen schnellen in die Höhe: „Ach.“ Sie lacht ein lautes, ehrliches Lachen. Das stimmt vielleicht, wenn man in Deutschland geboren ist, findet sie. Dann sagt sie: „Kocke su bačene.“ Dieses Sprichwort gefällt ihr besser. Übersetzt: Die Würfel sind längst gefallen.
Mein Vater sagt immer, dass er Glück hatte. Glück, dass Daimler gerade Leute gesucht hat, Glück, dass er zufällig die passende Ausbildung hatte. Und sein größtes Glück: meine Mutter. Die beiden lernten sich kennen, als mein Vater drei Wörter Deutsch sprach: „Eine Cola, bitte.“ Meine Mutter half ihm über bürokratische Hürden und Sprachbarrieren hinweg. Die Liebe zu ihr linderte das Heimweh.
Heute sagt er, dass er sich in Deutschland wohlfühlt. Gleichzeitig weiß ich, dass er vieles aus Štitar vermisst. Das Holzhacken, den Geruch der Tiere, die Stille des Waldes, seine Geschwister, seine Muttersprache. Das Wort Heimat findet mein Vater schwierig.
Die deutsche Sara in mir will unbedingt an die Idee von Europa glauben. Mich gibt es, weil zwei Männer – der Vater meiner Mutter ist Italiener – ihr Land verlassen haben, um in Deutschland ihr Leben zu finden. Was kann ich also schon gegen die Idee des Auswanderns sagen? Die kroatische Sara weiß, dass es ein Glücksspiel ist und dass „Arbeite hart, und alles wird gut“ nicht immer stimmt.
Am Bussteig 8, nur wenige Meter von uns entfernt, steht auf der Anzeigetafel: München. Ein junges Paar – er kurz geschorene Haare und konzentrierter Gesichtsausdruck, sie blonder Pferdeschwanz und Kuscheltier im Arm – verabschiedet sich von Familie und Freunden. Die Freunde haben Zettel gemalt, auf denen „Macht’s gut“steht. Der Vater hält seinen Sohn im Arm und streichelt mit seiner Hand über dessen Hinterkopf.
Der Sohn löst sich behutsam aus der Umarmung, küsst seine Mutter auf die Stirn, nimmt seine Freundin an die Hand und steigt in den Bus, ohne sich noch einmal umzudrehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste