Unser Schulsystem in Zeiten der Pandemie: Unter Dampf
Eltern interessieren sich hierzulande nicht für die Gemeinschaft, sondern nur für ihr Kind. In der derzeitigen Situation ist das ein Supergau.
A ls ich an meinem ersten Elternabend in einem westdeutschen Kindergarten teilnahm, war ich etwas erstaunt: Es ging weniger bis gar nicht um die Belange der Gruppe, sondern hauptsächlich um die des einzelnen Kindes. Meine Tochter. Mein Sohn. Mein Kind. Hat, braucht, möchte nicht.
In der Schule verschärfte sich diese Situation, und ich durchlitt die Elternabende mit einem andauerndem Herzrasen, ich sah mich nicht in der Lage, mich zu Wort zu melden, da ich in den meisten Fällen andernfalls drohte, ausfallend zu werden.
Ich komme aus einer Gesellschaft, in der die Gemeinschaft über das Individuum gestellt wurde. Dieses Projekt ist gescheitert und das ist hier nicht das Thema. Aber wie, frage ich mich noch immer, soll eine Gesellschaft funktionieren, in der sich die Menschen nur dafür interessieren, dass es „ihrem Kind“ gut geht? In der das eigene Kind als Erweiterung des eigenen Ichs angesehen wird, und in der alles, wirklich alles dafür getan werden muss, dass dieses Ich in seinen individuellen Bedürfnissen befriedigt wird?
Ich bin in einem System aufgewachsen, in dem die Schule eine respekteinflößende Institution war, eine Vorbereitung auf die Staatsbürgerschaft. Lehrer*Innen waren Respektspersonen, denen man nur selten widersprach. Elternabende waren dafür da, die Eltern zu informieren, über organisatorische, schulische Belange oder über Probleme, die das Kind machte, weil das Kind sich falsch benahm.
ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Sicherheitszone“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.
Jetzt haben wir ein in etwa entgegengesetztes System. Eltern genehmigen es dem Staat gnädig oder ungnädig, das eigene Kind zu unterrichten. Die Kompetenz von Lehrer*innen wird von Eltern und Schüler*innen immerfort angezweifelt. Elternabende sind dazu da, dass Eltern sich über die schlechte Behandlung ihres Kindes beschweren können. Wenn das Kind eine schlechte Arbeit geschrieben hat, muss die Arbeit zu schwer, das Kind zu schlecht darauf vorbereitet worden sein. Dem Kind selbst wird keine Verantwortung für sein Handeln auferlegt. Das Kind kann gar nichts falsch machen, weil das Kind ja mein Kind ist.
Jetzt haben wir den Supergau in diesem netten Schulsystem, wir haben eine Pandemie, die erfordert, dass wir Rücksicht nehmen. Im Schulsystem der DDR, das ich sonst in vielen Punkten ablehne, wäre das nahezu problemlos verlaufen. Wir waren es gewohnt, uns hinten anzustellen. Unser derzeitiges Schulsystem hier ist in derartigen Extremsituation ein Dampfkessel.
Wie soll auf die Probleme jedes „mein Kind“ eingegangen werden, angesichts der diversen nagelneuen Schwierigkeiten, die auf die Schulleitung, die Lehrer*innen und auf Eltern und Kinder zukommen? Als Blitzableiter sehen sich die Schulleitungen. Obwohl sie über die Maskenpflicht gar nicht entscheiden, müssten sie sie verteidigen. Sie sehen sich Hass und Wut gegenüber.
An der Ida-Ehre-Schule in Hamburg gab es letzte Woche einen Corona-Massentest, aufgrund eines immer unkontrollierbareren Ausbruchs. Das kommt vor und wird weiter vorkommen. Aber diese Probleme lassen sich nicht durch Pöbeleien und Vorwürfe lösen, sondern nur, indem jeder seine privaten, vielleicht gar nicht mal so wichtigen Probleme für sich behält, damit die Schulleiter*innen und Lehrer*innen sich mit den wirklich wichtigen Dingen beschäftigen können. Wie man die Lehrer*innen und Schüler*innen schützen und ein sinnvoller Unterricht durchgeführt werden kann, bei dem die Schüler*innen etwas lernen.
Darum sollte es gehen und nicht darum, dass Lehrer X eine Klassenarbeit zu spät für „mein Kind“ angekündigt hat, mäh, mäh, nicht darum, dass „mein Kind“ sich mit der Maske nicht so gut fühlt – ich fühl mich auch nicht gut mit der Maske, niemand fühlt sich gut damit. Aber es ist keine Katastrophe. Es ist ein kleiner Beitrag, und wir sollten unsere Kinder dazu erziehen, am persönlichen Befinden Abstriche zu machen, im Dienste der Gemeinschaft, die auch die ihre ist, und deren Rückhalt jeder Mensch braucht.
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