Ungelöste Mysterien der Menschheit: Amnesie und Erdrutschsieg

Unser Autor rätselt darüber, warum Jahrhundertüberschwemmungen wie jetzt im Süden nicht für einen fetten Wahlsieg von Ökoparteien sorgen.

Eine Person auf einer Bank im Hochwasser.

Klimawandel? War da was? Hochwasser nach Dauerregen in Süddeutschland am Neckar Foto: Peter Henrich/imago

Mein Schreck war groß: Eine halbe Stunde Radfahren am Rhein, Ankunft bei der Klimakonferenz in Bonn, ein Blick in den Fahrradkorb – verdammt, das Jackett? Ich hatte es oben in den Rucksack getan, den aber nicht zugemacht. Schnell den holperigen Weg am hochwässerigen Rhein zurückgestrampelt – nichts. Nochmal die Route abgefahren und überall geschaut – wieder nüscht. Wo bleibt ein dunkelgraues Sakko mit feinen Nadelstreifen, nicht ganz neu, aber noch ganz gut? Wer findet so was und nimmt es mit? Polstern die Gänse und Enten in den Rheinauen damit ihre Nester? Schwimmt das Sakko bereits Richtung Amerika?

Die verschwundene Jacke reiht sich ein in die größten ungelösten Rätsel der Menschheit: Wie entstand das Leben? Wie heißt die letzte Primzahl? Wo bleiben all die Kugelschreiber und einzelnen Socken, die wir verlieren? Warum geben Menschen Markus Söder ihre Stimme? Und: Warum führt eine Flutkatastrophe wie in Süddeutschland bei der Wahl nicht zu Rekordergebnissen von Öko-Parteien?

Der große Selbstbetrug der Umweltbewegung lautet ja: „Erst wenn der letzte Baum gerodet ist etc., werdet ihr sehen, dass ihr die Falschen gewählt habt.“ Die Theorie der Verelendung – es muss nur schlimm genug kommen, damit die Menschen den echten Ausweg sehen – funktioniert nur begrenzt: Die Flutwelle von Fukushima spülte Winfried Kretschmann ins Amt, die Dürresommer vor fünf Jahren die Fridays auf die Straßen und 20 Prozent Grüne nach Brüssel.

Aber sonst? Seit Jahrzehnten Waldsterben, verschwindende Vogelarten, Hitzestress, Dieselskandal, Bahndesaster, Globalisierung des Plastikmülls und 160 Tote im Ahrtal – und wer steht auf der roten Liste der bedrohten Polit-Spezies? Konservative mit der Öko-Abrissbirne oder Marktfans, die jeden Deichbau für Verschwendung von Steuergeld halten? Populistische Dumpfbacken, die Märchen über eine schöne alte heile Welt von vorgestern verbreiten, als noch nicht „die Ausländer“ oder „Brüssel“ an unseren hausgemachten Problemen schuld waren? Nein. Kritisiert werden UmweltschützerInnen, die versuchen, den Irrsinn des Spätkapitalismus schrittweise und schön legal so umzubauen, dass auch morgen noch was zum Ausbeuten übrigbleibt. Die aber dafür – Achtung Trigger! – ganz sachte und mit maximaler sozialer Abfederung etwas ÄNDERN wollen. Schreck!

Abgewrackte Atomrezepte

Ein wirklich kniffliger Fall, Watson. Wie kann das sein? Union und SPD vergeigen in schöner Eintracht über Jahrzehnte die Klima- und Energiepolitik und geben jetzt mit ihren alten und abgewrackten Rezepten (Atom! Verbrenner! Technologie!) plötzlich wieder den Ton an. Und die, die gerade mühsam und mit Bauchschmerzen die Scherben ihrer Politik wegfegen, werden dafür als verbohrte Ideologen beschimpft. Bayern meldet landunter, auch weil die Regierung Poldergebiete nicht mag und Klimaschutz sabotiert, bis sie von der grünen Bundesumweltministerin Margot Honecker (so Söder über Steffi Lemke) Geld für den Hochwasserschutz will. Und dann geht es immer so weiter: Kaum ist die Flut vorbei, genehmigen dieselben PolitikerInnen Neubauten auf Überschwemmungsflächen, nur um bei der nächsten Flut zu meinen, damit „konnte nun echt keiner rechnen“. Aber Politikpersonal mit solcher Rechenschwäche kommt offenbar bei WählerInnen mit akuter Öko-Amnesie gut an.

Am Sonntag wäre die Möglichkeit, das zu ändern. Warum es aber auch bei dieser EU-Wahl nicht passieren wird, bleibt „XY ungelöst“. Uns ist der echte Erdrutsch offenbar immer noch lieber als ein Erdrutschsieg der UmweltschützerInnen. Mir bleibt nur der Trost der Freundin, die mich in Bonn nach meinem Sakko-Desaster verabschiedet: „Verlier nicht wieder was“, sagt sie, „vor allem nicht den Verstand.“

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Jahrgang 1965. Seine Schwerpunkte sind die Themen Klima, Energie und Umweltpolitik. Wenn die Zeit es erlaubt, beschäftigt er sich noch mit Kirche, Kindern und Konsum. Für die taz arbeitet er seit 1993, zwischendurch und frei u.a. auch für DIE ZEIT, WOZ, GEO, New Scientist. Autor einiger Bücher, Zum Beispiel „Tatort Klimawandel“ (oekom Verlag) und „Stromwende“(Westend-Verlag, mit Peter Unfried und Hannes Koch).

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