Punk-Geschichtsschreibung in Hamburg: Und noch einmal zurück zum Beton
Die Veranstaltung „Alles bleibt gut“ feiert mit Fotos und Konzerten 45 Jahre Punk, Avantgarde und NDW in Hamburg – und bleibt ein Versprechen schuldig.
Auf halber Strecke, gut zwanzig Meter weit oben im Hamburger Nachthimmel, trifft einen der Gedanke nicht wie eine Granate, aber doch recht hart: Wenn Punk, laut Zeitrechnung der Veranstalter, 1980 nach Hamburg kam, dann war dieser Weltkriegsbunker, auf dessen Dach man sich gerade befindet, damals einige Jahre jünger als das Musikgenre heute.
Die passend nach dem Hitler-Widerständler getaufte Georg Elser Halle, die sich in der kürzlich fertig gebauten Aufstockung des Flakturms auf St. Pauli befindet, wird über den sogenannten Bergpfad erreicht. Der rankt sich einen halben Kilometer lang um den zum Kulturbunker umgebauten Betonklotz nach oben. Und so ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass dieser mit „45 Jahre Punk, Avantgarde, NDW“ überschriebene Abend, nicht allzu üppig besucht ist, bei einer recht hohen Dichte an Nordic Walking Stöcken und anderen Gehhilfen.
Versprochen wurde unter dem angesichts der Weltlage mutigen Titel „Alles bleibt gut“ eine Kombination aus Fotoausstellung und Minifestival. Die Idee stammt von Jan Riephoff, Fotograf und Zeitzeuge. Wie viele nutzte auch er den Lockdown zum Aufräumen. Zeit war da, zu Ordnendes auch. Beim Sichten seiner alten Fotos hob Riephoff vergessene Schätze. Auch einiges aus Hamburgs Bermuda-Dreieck der 80er Jahre zwischen dem Live- und Tanz-Club Kir und den Trinktreffs Luxor und Subito.
Aber auch viel anderes, wie die riesige Banderole aus Dutzenden groß aufgezogenen Fotos rund um die geräumige Elser Halle zeigt: Alfred Hilsberg unterm Weihnachtsbaum, Yello beim Golfen, Rio Reiser in voller Schönheit, Blixa Bargeld als Bürgerschreck, die jugendlichen Brüder Diederichsen, Bernd Begemann im Saunalook … Viele dieser Leute sind noch heute aktiv, warum nicht die Bilder zusammen mit ihrer Musik präsentieren, dachte sich Riephoff.
Wie, wo, was Avantgarde?
Den Auftakt macht Tommy Schmidt, als Pontor Vodox offensichtlich für „Avantgarde“ im Untertitel gebucht. Seiner Mischung aus Free Jazz und Heavy Metal, dargeboten als Solist mit maximal verzerrter und verstimmter Gitarre und einem Mad-Max-artigen Stahl-Iro-Helm, konnte nicht mal der Tröt-Pabst Peter Brötzmann etwas abgewinnen. Es geht um den unmittelbaren, den nicht formatierten Ausdruck, und das ist theoretisch weit interessanter als praktisch.
Es folgt Andrew Unruh, Gründungsmitglied der Einstürzenden Neubauten, der für seinen „Beating the Drums“-Auftritt ein beachtliches Mitmach-Angebot auffährt. Etliche Schlagzeugtische werden in der Halle aufgebaut. Das Publikum kann selbst zum Drumstick greifen.
Kaum fahren Unruh und sein Kompagnon auf der Bühne das erste, Liaisons-dangereuses-inspirierte Stück hoch, wechselt die Stimmung davor zu einem Trommelworkshop für Hard-Synth-Beats der frühen 80er. Zum Finale mit „Ça plane pour moi“ ertappt man sich dann bei der Frage, was das denn hier mit dem Veranstaltungstitel zu tun hat.
Mit Punk, Avantgarde und NDW hatten die Zimmermänner schon damals nichts am Hut. Sie starteten mit Ska und besetzten dann bald die Pop-Außenstelle im Repertoire von Zick Zack, dem Label Alfred Hilsbergs, der das Geschehen von gleich mehreren Fotos aufmerksam beäugt. Heute spielen sie ein „Soul & Funk Set anno 1983“ verkündet Detlef Diederichsen, der sich mit Timo Blunck die dazu passenden federleichten Gitarrenriffs zuwirft. Vielleicht die einzige der frühen Zick-Zack-Bands, die sich tatsächlich am Singen versucht hat, und ganz sicher die einzige, die dabei Schneverdingen erwähnt.
Bernd Begemann und Die Antwort
Bernd Begemann und Die Antwort steigern die Stimmung mit ihrer eigenen Art von Power-Pop. Aber auch die Fragen: Wo läuft hier der rote Faden? Als Die Antwort sich 1985 gründeten, sprach niemand mehr von Punk oder NDW. Auch zwischen den durchweg exzellenten Fotos tauchen mehr und mehr Fragezeichen auf. Passt der Rotwein-Troubadour Nikki Sudden in diese Runde? Was macht die gut gekämmte Mod-Band Chocolate Factory hier? Ist es vielleicht doch eher eine Werkschau von Riephoffs Subkultur-Fotos, verlängert um befreundete Bands?
Was völlig okay wäre, wenn der Titel nicht anderes versprochen hätte. Und es über die Jahre nicht eine Reihe solider Rückschauen auf die Gründerjahre der deutschen Gegenkultur gegeben hätte. Die Düsseldorfer Ausstellung Zurück zum Beton legte die Latte schon vor über 20 Jahren hoch. 2020 dokumentierte das Buch „Hamburg Calling“ die Sturm-und-Drang-Zeit an der Elbe in Wort und Bild.
Neben diesen und weiteren Anstrengungen wirkt der Abend unfokussiert und die immer spärlicher besetzten Reihen wie kein Wunder. Als Mona Mur nach einem düster-schweren Abschluss-Set in den weitgehend leeren Saal ruft: „Habt noch ’ne wunderbare Party“, ist der Zynismus kaum zu überhören.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert