Umziehen im Alter: Neuanfang ist immer möglich
Die Umzugsfreudigkeit der über 65-Jährigen steigt. Ein Altersforscher erklärt, woran das liegt, und vier Pensionist:innen erzählen von ihren Erlebnissen.
Inhaltsverzeichnis
- Wilfried und Doris Weber sind 72 und kürzlich aus Mittelhessen nach Berlin gezogen
- Peter Heinzke, 74, Angelika Pohlert, 79, Shahla Feyzi, 70, betreiben Co-Housing in Köln-Nippes
- Ute Grünwedel, 82, und Hildegard Ruder, 79, leben im Wohnprojekt Olga („Oldies leben gemeinsam aktiv“) in Nürnberg
- Bernhard von Roon, 72, ist vor zwei Jahren nach Alt Tellin gezogen
w ochentaz: Herr Oswald, die Babyboomer:innen gelten im Alter als flexibler im Vergleich zu den älteren Generationen vor ihnen. Wagen jetzt also viele der über 65-Jährigen noch mal einen Neuanfang und wechseln den Wohnort?
Frank Oswald: Die Umzugshäufigkeit älterer Menschen nimmt zwar zu, aber auf einem sehr niedrigen Niveau. Die Umzugshäufigkeit jenseits des 65. Lebensjahrs ist sehr viel geringer als im Rest der Bevölkerung.
Welches sind denn die Motive für Umzüge nach dem Beginn des Ruhestands?
Wir unterscheiden Grundmotive und sogenannte Wachstumsmotive. Ein Grundmotiv ist zum Beispiel, wenn mir das Haus zu groß geworden ist, wenn ich den Garten nicht mehr schaffe, wenn ich barrierefrei wohnen will, um selbstständig zu bleiben. Dann muss ich umziehen, zum Beispiel in eine altersgerechte Wohnung. Bei der Hälfte der älteren Umziehenden erkennen wir aber Wachstumsmotive, das heißt, die Menschen entscheiden sich freiwillig für einen Umzug, vielleicht um näher zu den Kindern und Enkeln zu ziehen und sich aktiv an deren Betreuung zu beteiligen. Manchmal ziehen Menschen auch wieder in ihre Herkunftsregion, nachdem sie vorher aus beruflichen Gründen woanders gelebt haben.
Weniger Umzüge
Unter den Menschen über 65 Jahren gibt es pro Jahr nur rund 14 Umzüge je 1.000 Personen, das ist weniger als ein Drittel der Umzugsquote im Durchschnitt der Bevölkerung, die bei 48 Umzügen je 1.000 Personen liegt. Zwei Drittel der Umzüge der über 65-Jährigen finden innerhalb eines Radius von 50 Kilometern statt.
Freiwillig oder nicht?
Während nach Ruhestandsbeginn Umzüge oft freiwillig erfolgen, herrschen ab dem 80. Lebensjahr unfreiwillige Umzüge vor. 14 Prozent der Wohnortwechsel in sehr hohem Alter sind Einzüge ins Heim.
Alters-WGs sind selten
Nur 1 bis 3 Prozent aller über 65-Jährigen leben in gemeinschaftlichen Wohnprojekten, darunter fällt das Mehrgenerationenwohnen oder auch Wohnprojekte für Ältere.
Spielt denn auch ein wärmeres Klima eine Rolle? Die Deutsche Rentenversicherung überweist alljährlich an 22.000 deutsche Ruheständler:innen in Spanien Renten.
Es gibt Deutsche, die beispielsweise nach Mallorca ziehen als Zweitwohnsitz, meist sind das dann ihre früheren Urlaubsorte. Das ist aber eher eine temporäre Migration, viele behalten trotzdem noch eine Wohnung in Deutschland. Der Umzug mündet dann oftmals eher in die Segregation, nicht in die Integration, die deutschen Rentnerinnen und Rentner bleiben im Ausland häufig unter sich.
Ziehen Rentner:innen auch aus Kostengründen um? Etwa weil sie glauben, im Ausland billiger leben zu können?
Die temporäre transnationale Migration gibt es in der teuren und in der billigen Variante, je nachdem wo man hinzieht. Aber das trägt langfristig eher nicht. Man merkt vielleicht, dass die gesundheitliche Versorgung vor Ort nicht so gut ist wie gewünscht; dass der Nachbar mit seinem Schlaganfall doch sehr weit weg war vom nächsten Krankenhaus. Diese Umzüge betreffen zudem nur eine kleine Gruppe. Zwei Drittel aller Umzüge jenseits der 65 finden im unmittelbaren Umfeld im Inland statt.
Wer umzieht, bleibt also lieber in der Region?
Die Verbundenheit mit der Region, mit dem Ort, dem Kiez und der Wohnung ist grundsätzlich stark und im hohen Alter noch mal stärker. Die Menschen wollen, wenn sie im Alter umziehen, möglichst in ihrer Stadt und möglichst fußläufig zu ihrem alten Kiez bleiben. Man muss aber sehen: Die allermeisten älteren Menschen wollen gar nicht umziehen, sie wollen in ihrer angestammten Wohnung und Gegend bleiben, fast um jeden Preis.
Woher kommt diese Verbundenheit, wenn die Wohnung doch eigentlich zu groß geworden ist und sich die Nachbarschaft über die Jahre stark verändert hat?
Zum einen ist es schlichte Gewohnheit, zum anderen ist die Verbundenheit zur Wohnung, zum Haus und zur Umgebung so stark, weil das eine Verbindung zur eigenen Biografie, ein wichtiger Erinnerungsanker in die Vergangenheit sein kann. Hier habe ich mit meinem Mann gelebt, in diesem Zimmer haben meine Kinder gespielt, auf diesem Sessel herumgeturnt. Ich kenne die Nachbarschaft, als es noch kaum Autos gab auf der Straße, und so weiter. Das ist eine Verbundenheit, die man von außen gar nicht sieht, die mit der Dauer zu tun hat, die man hier gelebt hat. Deswegen funktioniert es nur selten, wenn man von Menschen verlangt, die größere Wohnung gegen eine kleinere irgendwo anders einzutauschen. Da helfen auch keine Umzugsprämien.
Viel wird ja immer erzählt über das gemeinschaftliche Wohnen im Alter als alternative Lebensform zum Alleinsein. Werden diese Modelle denn tatsächlich populärer?
Na ja, es wird über das gemeinschaftliche Wohnen mehr berichtet als drin gewohnt. Die Häufigkeit von alternativen Wohnformen für Menschen ab 65 Jahre und älter liegt unter 3 Prozent.
Welche Voraussetzungen bringen die Leute dafür mit?
Das Wichtigste ist: Ich muss dafür bereit sein, mich aktiv einzubringen, Mitverantwortung zu übernehmen und nicht nur Annehmlichkeiten zu empfangen und darauf zu warten, dass ich bedient oder im Falle des Falles sogar versorgt werde. Das funktioniert sicher nicht. Es ist kein Modell, das quasi dem Heim vorgelagert ist. Es funktioniert immer nur dann, wenn eine grundlegende Bereitschaft zur Mitwirkung vorhanden ist.
Welche Menschen beteiligen sich denn an solchen Projekten?
Relativ häufig sind es jüngere, allein lebende Frauen, etwa 65 bis 80 Jahre alt. Paare in dieser Altersgruppe sind ebenfalls häufig. Allein lebende Männer sind dagegen eher relativ selten, vielleicht sind sie nicht entscheidungsfreudig genug.
Wenn Frauen zahlenmäßig so stark vertreten sind in den Projekten, müssen sie wohl nicht zuletzt auch untereinander sehr konfliktfähig sein?
Man sollte in jedem Fall ein gerüttelt Maß an Sozialkompetenz mitbringen. Zwei andere Eigenschaften helfen auch – und das sind Offenheit und soziale Verträglichkeit. Offenheit für neue Erfahrungen ist generell wichtig für ein gutes Altern, Offenheit Neuem gegenüber, ob es Technik ist oder ob es andere Menschen sind, das ist enorm wichtig, nicht nur, aber auch im Bereich des Wohnens.
Hat das auch etwas mit Bildung zu tun?
Der Bildungsvorteil schwingt immer mit, weil Menschen mit höherer Bildung häufig bessere finanzielle Ressourcen haben und sich mehr leisten können. So sind Angebote, die zum Beispiel Barrierefreiheit mit ökologischem Wohnungsbau verbinden, besonders attraktiv, aber auch eher hochpreisig. Wir haben solche Angebote auch hier in Frankfurt und der Region.
Ist auch die Biografie wichtig für die Sozialkompetenz?
Es gibt Hinweise darauf, dass es hilfreich ist, dass viele Babyboomer früher schon mit anderen Personen zusammengewohnt haben, als Studenten in einer Wohngemeinschaft zum Beispiel. Wenn jemand Wohngemeinschafts- und Umzugserfahrungen von früher mitbringt, macht das einen Unterschied, was die realistische Einschätzung von Erwartungen an gemeinschaftliches Wohnen im Alter betrifft. Aber man darf nicht vergessen: Die Planungsdauer für solche Projekte beträgt oft fünf, sechs Jahre. Wer am Anfang dabei ist, zieht am Ende vielleicht gar nicht mehr ein. Und Gruppen haben häufig ihre eigene Dynamik: Mitunter sind es persönlichkeitsstarke „Projektprofis“, die sich engagieren und dann auch durchsetzen, auch damit muss man klarkommen.
Interview: Barbara Dribbusch
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Wilfried und Doris Weber sind 72 und kürzlich aus Mittelhessen nach Berlin gezogen
Nach Berlin gehen, das machen die jungen Leute, die Studierenden, die Kreativen, die Spinner, die für das Leben auf dem Land zu verrückt sind. So hört man es oft. Doris und Wilfried Weber sind auch gerade hierher gezogen, allerdings sind die beiden 72 Jahre alt und damit eigentlich schon aus dem Gröbsten raus.
„Wir haben uns mit 15 kennengelernt, als wir in dieselbe Klasse kamen“, erzählt Doris Weber. „Einmal habe ich eine Feier unten in unserem Partykeller veranstaltet. Wilfried erschien einfach uneingeladen. Seitdem sind wir zusammen.“
In dem großen Haus darüber, dem ihrer Eltern, wohnten die beiden später selbst und gründeten eine Familie. Zehn Zimmer, der Speicher, der Wintergarten, der Partykeller natürlich und der riesige Garten drumherum: jede Menge Platz im kleinen Niederkleen bei Gießen. Doch spätestens, als die beiden Töchter ausgezogen waren, spürte das Ehepaar, wie es im Dorf nach und nach leerer wurde. „Ich fing an, mich alleine im Haus zu fürchten“, sagt Doris Weber. „Ich spürte, dass ich hier nicht einsam alt werden will. Dazu die viele Arbeit mit dem Haus und dem Garten, das konnten wir kaum allein bewältigen.“
Also verkauften die Webers ihr Haus und tauschten es gegen eine Wohnung in Friedrichshain um, drei Zimmer in einem schicken Neubau. „Wir sind für mehr Familienleben nach Berlin gezogen“, erklärt Wilfried Weber. „Eine Tochter lebt hier, wir können hier viel mehr Zeit mit unseren beiden Enkelkindern verbringen. Auch Doris’ Bruder lebt schon lange hier.“ Durch die vielen Besuche war die große Stadt längst keine unheimliche Unbekannte mehr.
Doch sich von so vielen Dingen trennen, den Heimatort verlassen, noch einmal neu anfangen: das muss doch furchtbar schwer gefallen sein, wird Doris Weber oft gefragt. „Die Trennung vom Haus eigentlich nicht“, antwortet sie. „Es ist eher eine große Erleichterung, dass wir die viele Arbeit nicht mehr haben. Dass wir uns rechtzeitig zum Umzug entschieden haben, bevor wir zu müde werden.“
Aus dem alten Haus konnten die beiden kaum etwas mit in die neue Wohnung nehmen. Eine Lampe, eine kleine Modelleisenbahn, die bunte Schlangenfigur, die Briefmarkensammlung, der Karton mit den ganzen Dias, die man mal wieder durchschauen müsste. „Die alten Möbel waren viel zu groß für die Zimmer hier, wir haben viel verschenkt und uns neu eingerichtet.“ Aber an Gegenständen würden die beiden ohnehin nicht so besonders hängen. An den Menschen aus der Heimat schon eher.
„Sich von den Freunden und Bekannten zu verabschieden, in meiner Gymnastikgruppe und Wilfrieds Handballverein, das war schwer“, sagt Doris Weber. In Berlin müssen sie neben dem Familienleben erst einmal wieder Kontakte knüpfen. Dafür aber haben sie gleich ums Eck ein neues Stammlokal für sich entdeckt und erkunden bei Ausflügen die schönen Ecken der Stadt und ihres Brandenburger Umlands. Und wenn der Berliner Winter mal aufs Gemüt drückt, besuchen sie einfach ihre andere Tochter. Die wohnt in Australien. Die Flüge sind schon gebucht.
Von Philipp Brandstädter
Peter Heinzke, 74, Angelika Pohlert, 79, Shahla Feyzi, 70, betreiben Co-Housing in Köln-Nippes
Gerade war die taz gegründet worden, da zog Angelika Pohlert in ihre erste Wohngemeinschaft. Leben und lieben, mit sechs anderen Leuten, und das auch noch auf dem Land, in einem Gutshaus in Kleve an der holländischen Grenze. „Solche unbürgerlichen Wohnverhältnisse waren nahezu anrüchig damals“, erzählt Pohlert und schmunzelt. 46 Jahre ist das nun her.
Heute ist das WG-Konzept völlig normal, vor allem in den Großstädten. Unter Rentner:innen bleibt es eher ungewöhnlich. Und das ist auch das Co-Housing-Projekt in Köln-Nippes, in dem Pohlert heute wohnt. Eine Freundin Pohlerts, Gisela Hauck, wollte nicht alleine wohnen, ebenso Shahla Feyzi, nachdem deren Tochter ausgezogen war. Sie war in den 1980er-Jahren aus dem Iran geflohen. In Teheran hatte auch sie im Studentenwohnheim gewohnt. Nun sind die drei Frauen im fortgeschrittenen Alter WG-Genoss:innen.
Der Vierte im Bunde ist Peter Heinzke. „Ich habe schon ein traditionelles Familienleben in einem Haus auf dem Land gehabt, in der Eifel“, sagt er. „Doch nach der Trennung von meiner Frau und dem Auszug der Kinder sehnte ich mich zurück in die Stadt.“
Also haben die vier mit einer Baugemeinschaft ein Wohnprojekt im Kölner Norden gegründet, in einer Neubausiedlung auf einem Gelände, das früher einmal eine Gummifabrik war. „Was gar nicht so einfach war“, erzählt Heinzke. „Es müssen sich ein paar Leute finden, die mutig sind, den Schritt zu gehen und Geld in die Hand nehmen.“ Dann wurde ein Haus gebaut, für das Co-Housing auf der zweiten Etage musste eine passende Eigentumsform entwickelt werden. Alles, was die korrekte Bürokratie eben so verlangt, 0,75 Garagenplätze für jeden und anderer Unfug, den keiner vorhergesehen hatte.„Doch nun haben wir es geschafft“, sagt Heinzke und meint damit „einen angenehmen Luxus in der Balance zwischen Zweck- und Kuschel-WG“.
„Es ist ein bisschen anders als damals in Kleve“, sagt Pohlert. „Das Alter bringt viel mehr Langmut mit sich.“ Über leere Milchkartons im Kühlschrank, schlecht geputzte Töpfe und zu laute Partys bis in die Morgenstunden muss sich hier niemand aufregen.
Die vier sind entweder in ihrer Gemeinschaftsküche zusammen, oder sie ziehen sich in ihren eigenen Bereich zurück, 40 Quadratmeter mit eigenem Bad. Dazu die Räume, die das ganze Haus nutzt: eine Dachterrasse, ein Gemeinschaftsraum, eine Werkstatt im Keller, die regelmäßig in ein Repair-Café verwandelt wird. „Wir haben im ganzen Haus eine gute Mischung an Leuten, die sich kennen, mögen und gemeinsam entscheiden, wie wir unser Zusammenleben gestalten“, sagt Heinzke. Und welche Anschaffungen man tätigt: Solar auf dem Dach, Weinreben an der Hausfassade, Vogelkästen auf den Balkons.
Angelika Pohlert hat sich übrigens gerade neu verliebt, „in Ulrich“ von Gegenüber. Kennengelernt haben sie sich im Rentner:innen-Café.
Von Philipp Brandstädter
Ute Grünwedel, 82, und Hildegard Ruder, 79, leben im Wohnprojekt Olga („Oldies leben gemeinsam aktiv“) in Nürnberg
Warum leben Frauen im Durchschnitt länger als Männer? Weil sie später wenigstens noch ein paar schöne Jahre haben wollen. Diesen Scherz hören die Bewohnerinnen des Wohnprojekts Olga öfter. Im Haus wird gerade das 20-jährige Bestehen (nach-)gefeiert, Gratulationen aus der Lokalpolitik und Medienrummel inklusive.
Auch ohne Jubiläum ist in dem Haus genug los: Elf Olgas leben in dem Haus mit den Ein- bis Zweiraumwohnungen und einem großen Garten. Bewohnerin Ute Grünwedel ist den Trubel gewohnt. „Das ist gar nichts im Vergleich zu meinem früheren Leben“, sagt sie. 30 Jahre lang hat sie ein Internat mit über 200 Jugendlichen geleitet – und auf dem Gelände gewohnt. Nach dem Ruhestand bekam sie einen Platz in der Hausgemeinschaft.
Die besteht ausschließlich aus Frauen. Bei der Gründung hatten sich ursprünglich auch drei Männer beworben. „Doch als das Haus gebaut und die Sache verbindlich wurde, sprangen die ab“, erzählt Ute Grünwedel. „Die haben wohl gemerkt, dass sie hier nicht bekocht werden und ihre Wäsche selbst machen müssen.“
Jede Bewohnerin hat hier ihre eigene Wohnung mit eigener Küche, Bad und Balkon, bis zu 60 Quadratmeter pro Partei. „Wir entscheiden selbst, wie viel Gemeinschaft und wie viel Rückzug wir wollen und brauchen“, sagt Hildegard Ruder – dieses angenehme Zusammenleben schätzt die 79-Jährige. Sie wagte den späten Umzug, als sie sich von ihrem Mann getrennt hatte und ihr das Haus, in dem sie lebte, zu groß wurde. Erst wollte sie selbst eine WG gründen, dann stieß sie auf Olga. „Das eigene Haus aufzugeben war anfangs eine einzige Katastrophe“, sagt Ruder. „Meine Schwester musste mit einem großen Anhänger vorfahren – allein, um den Keller auszuräumen.“ Heute ist sie froh, den Schritt gewagt zu haben. „Zusammen alt werden ist wichtiger und schöner, als möglichst viel Platz für sich selbst zu haben.“
Im Olga gibt es regelmäßige Treffen, Besprechungen, Spieleabende. Mal werden Garteneinsätze, mal Ausflüge organisiert. Die Frauen haben sich gegenseitig unterstützt, Aufgaben bewältigt, Reisen unternommen. Sie haben gemeinsam gefeiert, gemeinsam getrauert. Im Todesfall oder bei Auszug zieht rasch eine Neu-Olga in die frei gewordene Wohnung. Die Liste der Interessentinnen ist lang.
„Wir sind ein bisschen ruhiger geworden“, erzählt Ute Grünwebel. „Die Älteste von uns wird 86, da ist mehr Ruhe und Bequemlichkeit gewünscht und mehr Hilfe und Toleranz gefragt.“ Und jede Bewohnerin ist erleichtert, dass zur Not immer jemand einen Zweitschlüssel hat – wenn mal was ist.
Von Philipp Brandstädter
Bernhard von Roon, 72, ist vor zwei Jahren nach Alt Tellin gezogen
Berlin, Rio, Goa, Genua, Alt Tellin, so würden sich die Kapitel der Biografie von Bernhard von Roon lesen. Ein Leben lang ist der heute 72-Jährige durch die Welt gereist – um schließlich in einem 400-Seelen-Dorf in der Nähe von Greifswald anzukommen. Dort steht der Mann mit den langen weißen Haaren, den die lokale Zeitung schon als „Aussteiger im Plattenbau“ betitelte, in einem seiner zwei Zimmer und schaut auf das sattgrüne Tal des Flusses Tollense.
„Die Aussicht ist herrlich“, sagt er, „hier knallt den ganzen Tag die Sonne rein.“ Manchmal ist es so hell, dass er das Fenster mit Tüchern abhängen muss, um etwas auf dem Bildschirm seines Computers sehen zu können, beim Videocall mit seiner Tochter in China zum Beispiel. Und diese Ruhe. Einige Sekunden hören wir nichts bis auf das Zwitschern der Schwalben, die an den Ecken der porösen Hausfassade nisten. Bernhard von Roon ist ja auch fast der Einzige, der in dem unsanierten Plattenblock am Ortseingang wohnt. „Es ist warm, ich muss kein Holz hacken, es ist immer Wasser da.“ Der Müll wird abgeholt, der Garten wird gemacht, jemand wischt das Treppenhaus. Bernhard von Roon weiß zu schätzen, was für andere selbstverständlich ist.
Der studierte Elektrotechniker jobbte erst für ein paar Rockbands, mischte deren Musik und tourte mit ihnen. So auch Ende der siebziger Jahre im indischen Goa, allerdings für den umstrittenen Guru Bhagwan, später auch als Osho bekannt. Dort verbrachte von Roon die Winter zusammen mit seiner Partnerin Sarah, im Sommer waren sie in ihrem Haus in Ligurien. Bis Sarah starb.
„Ich kehrte aus Goa zurück, mit meinem Koffer von damals in der einen und ihrer Asche in der anderen Hand“, erzählt Bernhard von Roon. In Sarahs Haus kam er gar nicht mehr, da waren die Schlösser schon ausgetauscht. Also ging es zurück nach Deutschland, erst nach Berlin, wo er keine Wohnung fand. Dann lud ihn ein Freund nach Vorpommern ein und Bernhard bezog seine 48 Quadratmeter in Alt Tellin.
Im Nachbarort Hohenbüssow gibt es ein paar Dutzend Aussteiger, die dort schon seit der Wende leben. „Da habe ich sofort Anschluss gefunden. Ich fahre oft dorthin und wir musizieren, reden, basteln, genießen den Moment.“ Bernhard nimmt fast immer das Fahrrad. Die Busse fahren hier zu selten. Zu seinen medizinischen Checks in Demmin lässt er sich von Freunden fahren.
„Im Leben kommt es darauf an, zufrieden zu sein“, sagt von Roon und lächelt, als er mit seinen dunkel funkelnden Augen ins grüne Tal schaut. „Ich hatte das Privileg, mein ganzes Leben lang machen zu dürfen, was ich wollte. Dafür bin ich dankbar.“ Und er braucht ja auch gar nicht viel. Miete und Heizung übernimmt der Staat, die Grundsicherung genügt ihm.
„Die in Hohenbüssow leben alle so“, sagt Bernhard von Roon und lacht. „Wenn man kein Trinker oder Kettenraucher ist und sonst keine teuren Hobbys hat, reicht das völlig. Ich esse ja auch nur ganz wenig.“ Das sagt der, der die längste Zeit vor allem von Luft und Liebe gelebt hat.
Von Philipp Brandstädter
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