Umkämpfter linker Wahlkreis in Berlin: Ströbeles langer Schatten

Schon fast 20 Jahre lang halten die Grünen in Berlins östlicher Innenstadt das Direktmandat. Ein Linker und eine SPD-Frau wollen das nun ändern.

Pascal Meiser, Canan Bayram und Cansel Kiziltepe stehen vor einer grauen Wand

Konkurrierende Direktkandidat*innen: Pascal Meiser, Canan Bayram und Cansel Kiziltepe Foto: Stefanie Loos

BERLIN taz | Der Wahlkreis mit dem wenig einprägsamen Namen Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg-Ost ist längst legendär. Nicht, weil er flächenmäßig mit nicht einmal 27 Quadratkilometern der kleinste überhaupt ist. Sondern weil hier grüne Geschichte geschrieben wurde: 2002 gewann Christian Ströbele im Wahlkreis 83 das erste Direktmandat für seine Partei überhaupt. Und Ströbele und seine Nachfolgerin Canan Bayram verteidigten es bei jeder folgenden Wahl. Bis heute ist es das einzige Direktmandat der Grünen bei Bundestagswahlen geblieben.

Bayram, die nun zum zweiten Mal in der östlichen Innenstadt Berlins antritt, gibt sich entspannt, dass die grüne Tradition auch 2021 halten wird. Sie sitzt an einem Freitagnachmittag Ende August mit dem Inhaber einer türkischen Bäckerei am viel befahrenden Kottbusser Damm in Kreuzberg und isst Baklava. Hier gehören die meisten Geschäfte türkeistämmigen Menschen, längst nicht alle dürfen auch wählen. Und doch ist die 55-Jährige begehrte Ansprechpartnerin: „Die steigenden Gewerbemieten machen vielen Geschäftsinhabern große Probleme“, berichtet Bayram.

Selbst in einfachen Lagen im Bezirk würden inzwischen 20 Euro pro Quadratmeter verlangt. Die Räumung der Buchhandlung Kisch und Co. nach einer absurd erhöhten Miete machte bundesweit Schlagzeilen. Deswegen setze sie sich für eine Reform des bisher unkonkreten Gewerbemietrechts ein, sagt Bayram, im Bundestag Mitglied im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz.

Sie hat an einem Gesetzentwurf mitgeschrieben, der kleine Läden schützen soll, etwa durch die Anwendung der Mietpreisbremse und einen spürbaren Kündigungsschutz. Im Juni wurde er im Bundestag diskutiert und mit den Stimmen der Koalition abgelehnt.

Die politische Nachfolgerin von Ströbele

Neben dem omnipräsenten Thema Mieten prägt die Außenpolitik Bayrams Arbeit. „Sie spielt bei vielen Fragen eine große Rolle“, erzählt die im türkischen Malatya Geborene. Manchmal werde sie gefragt, ob Ströbele noch im Bundestag sitze. Bayram sieht sich selbst „politisch als seine Nachfolgerin“. Bei wichtigen Fragen halte sie mit ihm Rücksprache.

Etwa, als Mitte August über die rückwirkende Zustimmung für den Bundeswehreinsatz zur Evakuierung aus Afghanistan abgestimmt wurde. Erstmals habe sie einem solchen Einsatz zugestimmt, berichtet Bayram. Schließlich sei es vor allem darum gegangen, so vielen Menschen wie möglich wahrscheinlich das Leben zu retten. Aus den Reihen der Grünen hat niemand dagegen votiert.

Meiser geht von einem „Kopf an-Kopf-Rennen“ im Wahlkreis zwischen Bayram und ihm aus.

Bayram hätte sich das wohl leisten können. Wie ihr Vorgänger bezieht sie eine besondere Legitimation aus dem Direktmandat. „Ströbele wählen heißt Fischer quälen“, stand einst mit Blick auf den grünen Außenminister auf einem Plakat Ströbeles. Und wie jener hat Bayram durch radikalere Positionen in der Außenpolitik und bei der Unterstützung der linken Szene Aufmerksamkeit in den Medien bekommen: Kaum eine grüne Bundestagsabgeordnete jenseits des Fraktionsführungszirkels war wohl so oft in der „Tagesschau“ zu sehen wie Bayram.

Sie sei inzwischen viel bekannter als im Wahlkampf 2017, als sie das erste Mal um das Direktmandat kämpfte, heißt es aus ihrem Umfeld. Damals war sie Mitglied des Abgeordnetenhauses in Berlin und Expertin für Flüchtlingspolitik, aber darüber hinaus nicht besonders profiliert. Am Ende holte sie den Wahlkreis knapp gegen ihren linken Kontrahenten Pascal Meiser: Keine 1,5 Prozentpunkte trennten die beiden bei den Erststimmen; im Vergleich zu Christian Ströbeles letztem Ergebnis verlor Bayram fast 14 Prozentpunkte. Und bei den Zweitstimmen wurde die Linkspartei im Wahlkreis 83 klar stärkste Kraft.

Der Ausgang ist offen

Wirklich belastbare Umfragen, wer am 26. September die meisten Chancen auf den Sieg im Wahlkreis hat, gibt es nicht. Deswegen ist es auch ein Risiko, dass Bayram – ganz in der Tradition von Ströbele – nicht über die Landesliste abgesichert ist. Sie zieht nur wieder in den Bundestag ein, wenn sie das Direktmandat holt.

Pascal Meiser versucht erneut, das zu verhindern. Anders als Bayram zieht er ziemlich sicher wieder ins Parlament ein, egal, wer den Wahlkreis 83 gewinnt. Aber es wäre ein pres­tigeträchtiger Erfolg für ihn und seine Partei, ausgerechnet gegen eine dezidiert linke Grüne zu gewinnen.

Meiser, 46 Jahre alt, war wie Bayram 2017 neu im Bundestag. Zuvor hatte er viele Jahre den Bereich Kampagnen und Parteientwicklung bei der Linken geleitet. Er ist Mitglied in den Ausschüssen für Wirtschaft sowie für Arbeit und Soziales. Viele seiner Positionen sind gewerkschaftsnah; das merkt man bisweilen auch am Duktus seiner Pressemitteilungen.

Aber im Wahlkreis geht es um viele Themen: Hier hat die linke Szene ihre letzten Hochburgen in Berlin; während Teile von Friedrichshain von Plattenbauten geprägt sind, gilt Prenzlauer Berg als glatt saniertes und gentrifiziertes Altbauparadies für Be­sit­ze­r*in­nen von Eigentumswohnungen. Und doch ist auch die Obdachlosigkeit ein großes Problem, wie Meiser bei einem Termin vergangenen Freitag nahe dem Alexanderplatz verdeutlicht wird.

Wohnungsnot ist das große Thema

Hier, in einem ehemaligen Hotel, ist die sogenannte Task Force des Vereins Karuna untergebracht. Ihre Mitarbeiter, allesamt selbst ehemalige Wohnungslose, kümmern sich um Obdachlose auf der Straße. Doch die Zusammenarbeit mit den verschiedenen staatlichen Anlaufstellen sei oft holprig und mühsam, berichten sie. Dazu fehle Planungssicherheit, denn viele Jobs seien nur befristet finanziert.

Und schließlich gebe es gravierende politische Fehler: „Dass Zwangsräumungen in die Obdachlosigkeit noch erlaubt sind, ist absurd“, sagt einer der Mitarbeiter. Eine Einschätzung, die Meiser vollauf teilt. Obdachlosigkeit präventiv zu bekämpfen, sagt er, habe viel mit Wohnungspolitik zu tun – in diesem Fall vor allem mit fehlenden Wohnungen. Das Thema dürfte die nächste Legislatur im Bundestag prägen.

Meiser geht von einem „Kopf an-Kopf-Rennen“ im Wahlkreis zwischen Bayram und ihm aus. Doch es gibt einen zusätzlichen Faktor, der relevant werden könnte. Eine weitere Besonderheit des Wahlkreises 83 ist, dass ihn derzeit gleich drei linke Po­li­ti­ke­r*in­nen im Bundestag vertreten: Wie stark also profitiert die SPD-Kandidatin Cansel Kiziltepe vom aktuellen Hype um Olaf Scholz?

Unterschiedliche politische Schwerpunkte

Dass Kiziltepe, die seit 2013 Mitglied des Bundestags ist, das Direktmandat für die SPD holt, gilt als sehr unwahrscheinlich. Aber sie könnte den anderen beiden wichtige Stimmen wegnehmen. Denn politisch liegen alle drei bei vielen Positionen nahe beisammen. Sie gelten zum Beispiel schon lange als klare Be­für­wor­te­r*in­nen einer rot-rot-grünen Koalition im Bund. Bayram, Meiser und Kiziltepe schätzen sich und sind per du. Im Bundestagsalltag haben sie allerdings wenig miteinander zu tun, zu unterschiedlich sind dort ihre politischen Schwerpunkte.

Aber auch Kiziltepe engagiert sich stark in der Wohnungsfrage. Überregional bekannt wurde ihr Kampf gegen die Immobilienfirma Akelius, einen der großen Vermieter in Berlin: Die 46-jährige Finanzexpertin hat die Firma mehrfach wegen vermeintlicher Steuerhinterziehung angezeigt.

Es dürfte also erneut ein langer Wahlabend werden, insbesondere für Canan Bayram. Eine Besonderheit könnte sie am 26. September verlieren: die des einzigen grünen Direktmandats für den Bundestag. Denn in mehreren Wahlkreisen in größeren Städten haben grüne Kan­di­da­t*in­nen ebenfalls gute Chancen auf einen Sieg.

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