Umgang mit Kritik im Hochbegabtenverein: Wer nicht schweigt, soll fliegen
2022 wurden beim Hochbegabtenverein Mensa Fälle von Kindesmissbrauch bekannt. Wer im Verein den Umgang damit kritisiert, wird mit Ausschluss bedroht.

Anders sehen das jene, die von den Vereinsinterna betroffen sind. Denn nach dem viertägigen Jahrestreffen mit buntem Freizeitprogramm für kluge Köpfe mit IQ über 130 war die Stadt am Samstag auch Austragungsort der diesjährigen Mitgliederversammlung. Und auf der ging es um einen Missbrauchsfall, der bundesweit durch die Presse gegangen war – und darum, wie man innerhalb des Vereins mit Kritik umgeht.
Gleich sieben Mitglieder sahen sich mit Ausschlussanträgen konfrontiert. „Vereinsschädigendes Verhalten“ wirft man ihnen vor. Einige von ihnen hatten in Solidarität mit den jugendlichen Missbrauchsopfern eine E-Mail unterzeichnet, die eine größere Öffentlichkeit über Missbrauchsfälle im Verein informierte.
„Eine größere Öffentlichkeit“, das ist dabei relativ. Denn öffentlich waren die Vorfälle zu diesem Zeitpunkt bereits: Der Spiegel hatte Anfang 2023 berichtet; mehrere Mensa-Mitglieder warfen einem langjährigen Betreuer des Hochbegabtenvereins sexuellen Missbrauch vor. L., so wird geschildert, baute auf Jugendfreizeiten Kontakt zu den minderjährigen Mädchen auf.
Missbrauch einer 13-Jährigen: laut Gericht eine „Beziehung“
Von mindestens 18 Betroffenen berichtet Vereinsmitglied Christof Brüning heute; der Veranstaltungstechniker aus Hamburg war selbst viele Jahre für die Schulung von Jugendbetreuer*innen bei Mensa verantwortlich – und wirft dem Verein vor, dass mindestens ein Vorfall durch eine ausreichende Warnung hätte verhindert werden können.
Insgesamt zehn Mädchen und junge Frauen haben Anzeige gestellt; mehrere Verfahren wurden von der Staatsanwaltschaft eingestellt – ein üblicher Ausgang bei sexuellem Missbrauch: Da es oft an handfesten Beweisen fehlt, werden die Aussagen von Opfern durch psychologische Gutachten validiert. Schon zu wenige Details können ausreichen, um eine Aussage als potentiell gelogen einzustufen.
Eine der Strafanzeigen hatte dennoch bereits Erfolg: Ein Opfer aus Braunschweig konnte mit Briefen und Tagebucheinträgen beweisen, dass Betreuer L. sie 2016 im Alter von 13 ohne Verhütung sexuell penetriert hatte. Geschlechtsverkehr mit Kindern unter 14 Jahren gilt heute immer als schwerer sexueller Missbrauch.
Doch die Vorfälle lagen vor der Gesetzesänderung und das zuständige Landgericht Oldenburg erkannte mildernde Umstände: Obwohl das Opfer selbst vor Gericht davon sprach, manipuliert worden zu sein, befand die Richterin in ihrem Bewährungsurteil, der Mitzwanziger L. und die 13-Jährige hätten eine „Beziehung“ gehabt; schließlich sei sie noch bis zu einer ungewollten Schwangerschaft und Abtreibung mit 15 mit L. zusammen gewesen. Dennoch: L. Ist damit seit November 2023 verurteilter Sexualstraftäter.
Der Verein hatte ihn schon bei internem Bekanntwerden der Vorwürfe 2022 von Jugendfreizeiten ausgeschlossen. Auch sonst sieht sich der Vorstand im Umgang mit dem Missbrauch mittlerweile gut aufgestellt: Das bestehende Schutzkonzept sei seit dem Vorfall überarbeitet worden, ein Bericht zur Aufarbeitung wurde 2024 fertiggestellt.
Einige Vereinsmitglieder bewerten die Aufarbeitung kritischer; hinterfragt wird unter anderem die Expertise der vom Verein berufenen Missbrauchsbeauftragten, die keine Erfahrung mit Aufarbeitung habe. Vor allem aber entzündete sich Widerstand am unmittelbaren Umgang mit dem Täter.
Denn obwohl L. von Jugendfreizeiten gesperrt wurde, konnte er weiter andere Veranstaltungen des Vereins besuchen – und zugleich in anderen Vereinen weiter als Jugendleiter Freizeiten begleiten. Der Vorstand habe zudem sehenden Auges toleriert, das L. weiter Familien aus dem Verein kontaktierte – und teilweise mit ihnen privat in den Urlaub fuhr, kritisiert Brüning.
Mindestens ein weiteres Opfer hätte verschont werden können, wenn der Verein Eltern direkt nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe im Frühjahr 2022 offensiv davor gewarnt hätte, Betreuer*innen als Gast bei sich zu Hause aufzunehmen, ist er sich sicher. Erstmals 2023 äußerte Brüning diese Kritik.
Eine Gruppe von Mitgliedern verfasste im Anschluss auf Wunsch von Betroffenen eine warnende Nachricht an mehrere E-Mail-Verteiler; L. nannten sie darin namentlich – noch vor der Verurteilung durch das Landgericht. Eine kritische Entscheidung. „Aber“, erklärt die involvierte Eva C., die selbst kein Mitglied des Vereins ist, aber Mutter von zwei betroffenen Töchtern, „wir hatten das Gefühl, dass selbst nach dem Artikel im Spiegel viele Familien einfach nicht Bescheid wussten.“
Verein beklagt Warnungen
Mit sofortiger Wirkung bekamen sowohl Brüning als auch die Unterzeichner*innen der warnenden E-Mail schwere Sanktionen: In den gemeinsamen Vereinsforen wurde für sie eine Schreibsperre verhängt. Schon bei der Jahrestagung 2024 wurden einzelne Unterzeichner*innen ausgeschlossen; weitere sollten dieses Jahr folgen.
Der Verein sieht sich durchaus offen für Kritik und unterschiedliche Sichtweisen auf die Vorfälle. „Naturgemäß gibt es in einem bewusst weltoffenen Verein (…) auch sehr unterschiedliche Einschätzungen zum Schutzkonzept und der Aufarbeitung der damaligen Ereignisse“, schreibt der Vorstand von Mensa, der sich doch noch entschlossen hat, auf die taz-Anfrage ausführlich zu antworten. Doch hierbei, so der Vorstand weiter, sei es „auch zu einigen Grenzüberschreitungen in den Diskussionen“ gekommen.
„Vereinsschädigendes Verhalten“ ist der Vorwurf, der die Unterzeichner*innen und einige andere Mitglieder trifft. Dass der Name des damals noch nicht verurteilten Täters öffentlich gemacht wurde, steht in den Anträgen dabei weniger in der Kritik. Vielmehr wird betont, dass durch die E-Mail im Verteiler Kinder und Jugendliche mit „sexuellen Inhalten“ konfrontiert wurden.
„Es geht hier um Aufklärung über sexuelle Gewalt und nicht um sexuelle Inhalte“, befindet dagegen Unterzeichnerin Milena Robbers aus Hamburg. Die Mail der Gruppe war zudem mit einer Triggerwarnung versehen – anders als eine Mail der Verantwortlichen für die Kinder- und Jugendcamps, die Anfang 2023 speziell an Mitglieder unter 18 geschickt worden war – ohne dass die eher vorstandsnahen Verfasser*innen dafür mit Ausschluss bedroht worden seien.
Entgegen einer Vorab-Umfrage im Vereinsforum, die eine klare Mehrheit für den Vereinsausschluss gezeigt hatte, setzen sich bei der Mitgliederversammlung in Präsenz mit über 400 Teilnehmenden mäßigende Einflüsse durch: So wird am Ende Robbers, der nur die Unterschrift unter die Mail vorgeworfen wird, nur eine Rüge erteilt. Die mittlerweile zwei Jahre alte Schreibsperre aber wurde für die Betroffenen pauschal verlängert.
Für Brüning, dem neben der E-Mail auch noch vorgeworfen wird, den Vorstand mit Prozessen überzogen zu haben, stand die Beschränkung auf eine Rüge nicht im Raum. Tatsächlich hatte sich Brüning mit Unterlassungserklärungen auch erfolgreich gegen Aussagen des Vorstands gewehrt, die ihm eine Mitverantwortung an den Missbrauchsfällen unterstellten. Dem Ausschlussantrag kam er bei der Sitzung in Bremen am Samstag durch den eigenen Austritt zuvor.
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