Ukrainische Militärführung: Die Nervosität steigt
Entlässt Präsident Selenski den obersten Militär Waleri Saluschni? Das wäre ein riskanter Schritt. Der General ist beliebt.
In diesen Tagen liegen die Nerven besonders blank, aber nicht nur aus Angst vor dem nächsten russischen Angriff. Seien es Lehrer*innen oder Reinigungskräfte in einem Supermarkt. Seien es Präsident Wolodymyr Selenski und hochrangige Militärs – die Nervosität wächst allerorten.
Anfang dieser Woche wurden erstmals Informationen öffentlich, wonach Selenski den Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Waleri Saluschni, entlassen wolle. Es folgte ein Dementi aus der Bankowa, dem Sitz des Präsidenten. Daraufhin gab es zahlreiche Spekulationen und fast täglich neue Gerüchte und Einschätzungen von Expert*innen. Dass die Beziehung zwischen den beiden Männern seit Längerem erheblich gelitten hat, ist ein offenes Geheimnis. Doch jetzt rätselt alle Welt über die Frage: Was treibt Selenski um?
General Saluschni ist in der Bevölkerung sehr beliebt. Das Geraune über seine Entlassung kam deshalb nicht gut an. Die Menschen machen ihrer Empörung vor allem in den sozialen Netzwerken Luft, denn in Zeiten des Kriegsrechts sind Proteste auf der Straße verboten. Die Worte an die Adresse des Präsidenten sind eindeutig. Viele drängen ihn, zur Besinnung zu kommen und mit Saluschni Frieden zu schließen. Hitzköpfe kündigen einen Marsch in die Hauptstadt Kyjiw an, um „Selenski mit der Mistgabel von der Macht zu vertreiben“.
Ist die Entscheidung schon gefallen?
Die Beliebtheit Saluschnis drückt sich online auch in Memes aus, Witze und markante Bilder, die Menschen über ihn teilen. Ein Spruch geht so: „Wenn Saluschni einen Raum betritt, macht er nicht das Licht an, sondern schaltet die Dunkelheit aus.“
Bis Redaktionsschluss ist es nicht zu einer Ablösung Saluschnis gekommen, ein entsprechendes Dekret hat der Präsident noch nicht unterzeichnet. Aber das Thema beherrscht die Titelseiten. Es heißt, die Entscheidung zur Entlassung sei gefallen, sie habe sich lediglich zeitlich verzögert. Die Suche nach einem Nachfolger gehe weiter, weil keiner der Generäle dem Vorschlag des Präsidialamtes zugestimmt habe.
Derzeit rätseln jedoch alle darüber, wer oder was Selenski s Dekret in die Quere gekommen ist. So spekulieren manche, dass die westlichen Partner Kyjiws eingegriffen haben könnten und ihren starken Widerstand gegen Saluschnis Rücktritt zum Ausdruck gebracht hätten. Auf sie höre Selenskj, da die Ukraine mittlerweile vollständig auf westliche Militär- und Finanzhilfe angewiesen sei.
Ausländischen Medien ist zu entnehmen, dass westliche Regierungschefs Kyjiw beharrlich raten, auf eine strategische Verteidigung umzusteigen – das heißt, sie drängen darauf, die Strategie umzusetzen, die Saluschnj befürwortet.
Ein weiterer Grund, der die Entlassung vorerst verhindern könnte, ist das Problem, einen neuen Oberbefehlshaber zu ernennen. Ukrainische Medien nennen zwei Kandidaten für diese Position: den obersten Geheimdienstoffizier Kirill Budanov und den Kommandeur der Bodentruppen Alexander Syrsky. Womöglich besteht aber auch da noch Klärungsbedarf.
Der General ist eine Autorität
Für die Ukrainer*innen ist Saluschni eine Autorität – an der Front genauso wie im Hinterland. Der General hat mittlerweile eine viel stärkere öffentliche Unterstützung als Selenski (88 Prozent gegenüber 62 Prozent im Dezember), und der Präsident reagiert äußerst vorsichtig auf die Ergebnisse solcher Umfragen. Wenn in einer Woche Präsidentschaftswahlen wären, würde der General diese Wahlen gegen jede/n Konkurrent*in gewinnen.
Womöglich geht man im Präsidialamt aber davon aus, dass das Vertrauen in Saluschni sinken würde, wenn dieser seinen Posten verließe. Doch Demoskopen gehen davon aus, dass die Entlassung eher Selenski schaden könnte. Im Dezember ergab eine Umfrage des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie, dass 72 Prozent der Ukrainer*innen negativ auf Saluschnis Ablösung reagieren würden.
Dass zwischen dem Präsidenten und dem Armeekommandanten ein schwieriges Verhältnis besteht, ist seit Herbst 2023 ein Thema. Selenski äußerte seine Unzufriedenheit mit Saluschni zwar nicht öffentlich, aber nach dem, was aus dem Kreis seiner Gefolgschaft zu hören ist, ging es um die Verantwortung für das Ausbleiben wichtiger Siege 2023. Ein weiteres Streitthema ist die bevorstehende umfassende Mobilisierung. Der Präsident versuchte in beiden Fällen, sich aus der Verantwortung zu nehmen und sie gezielt an Saluschni zu übergeben.
Politische Eifersüchteleien und Taktieren hin oder her, klar ist: Wenn das Leben von Millionen Ukrainer*innen und die Zukunft des Landes auf dem Spiel stehen, sollten politische Ambitionen hinten angestellt werden – so die Meinung der weit überwiegenden Mehrheit.
„Sich selbst ins Knie schießen“
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
„Die Tatsache, dass Selenski und sein Team bereit sind, sich selbst ins Knie zu schießen, ist ihr Problem. Aber mit dieser Entscheidung schießen sie uns allen in die Beine. Denn der Rücktritt von Saluschni wird Selenskis Position nicht stärken, sondern schwächen. Und nicht nur Selenski, sondern die ganze Ukraine“, schreibt der Kolumnist Sergej Rudenko.
Der Politikwissenschaftler Witali Portnikow weist darauf hin, dass es im Interesse der Bürger*innen und der Elite liege, das große Vertrauen in Waleri Saluschni zu nutzen, um das psychologische Potenzial der Nation und ihren Glauben an den Sieg aufrechtzuerhalten. „Vertrauen ist ein riesiges Kapital, wenn es um einen existenziellen Konflikt zwischen zwei benachbarten Völkern geht. Daher sollten diejenigen, die Saluschni zu eliminieren versuchen, nicht über ihren eigenen Verbleib an der Spitze der Macht nachdenken, sondern darüber, wie sie das Kapital des Vertrauens in den Oberbefehlshaber nutzen können, um die nationale Einheit und die Bereitschaft der Ukrainer zu einer langfristigen Konfrontation mit der russischen Aggression zu bewahren“, schreibt Portnikow.
Er glaubt, dass das Vertrauen in Saluschni nicht schwinden werde, sollte er abgesetzt werden. Gleichzeitig werde jemand Neues nur durch Saluschnis Prisma wahrgenommen.
Sollte ein neuer Oberbefehlshaber im Krieg Erfolge vorweisen, werden viele sagen: „Wenn Saluschni dort gewesen wäre, hätte es einen noch größeren Erfolg gegeben.“ Wenn es dagegen Niederlagen geben wird oder die Regierung Kompromisse mit den Russen eingeht, werden alle sagen: „Wenn Saluschni die Armee angeführt hätte, wäre das nicht passiert.
Die Situation im Krieg ist volatil. Doch es ist unwahrscheinlich, dass irgendein ukrainischer Politiker Saluschnis Platz einnehmen kann – jenen eines „Retters der Nation“, so wie die Ukrainer*innen ihn heute verstehen.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!