Ukrainische Kinder im Krieg: Mit Schild und Schwert
Der Krieg lässt junge Ukrainer über Nacht erwachsen werden. Das stellt die Eltern vor ganz neue Herausforderungen.
Einmal, während des dauernden Beschusses von Odessa, bastelten meine Söhne selber Schild und Schwert. Das Schild war die alte Tür einer Hundehütte, und das Schwert machten sie aus einem Stück Zaun. Furchteinflößend, aber voller Mut gingen Denis und Timofej nach draußen auf die Straße, um ihr Zuhause zu verteidigen. Auf eben die Straße, auf der sie vor noch gar nicht langer Zeit mit ihren Freunden Fußball gespielt und vor nichts Angst gehabt hatten. Jetzt sind sie erwachsen geworden. Als wären sie überhaupt keine Kinder mehr, sondern erwachsene Männer, die ihre Mutter und ihr Zuhause selber beschützen.
ist Chefredakteurin des ukrainischen Nachrichtendienstes USI.online in Odessa. Sie ist Mutter von zwei Kindern (9 und 12).
Mein jüngerer Sohn Timofej ist kürzlich neun geworden. Als er gerade geboren war, Muttermilch trank, mit meinen Locken spielte und den Vögeln beim Singen zuhörte, begann im Osten der Ukraine, im Donbass, der Krieg. Damals hatte er noch andere Namen und er schien weit weg zu sein. Jetzt, wo Raketen über unser Haus fliegen, verstehe ich, dass mein Kind genauso alt ist wie die größte Tragödie in der Geschichte unseres Heimatlandes. Dass er in seinem jungen Alter schon viele Prüfungen zu bestehen hatte. Einige Jahre versteckten wir uns vor einem unsichtbaren Feind – dem Coronavirus. Der Feind, vor dem wir uns jetzt verstecken, ist sichtbar: russische Soldaten, die, als ob sie verrückt geworden wären, die Ukrainer vernichten wollen.
Mein älterer Sohn Denis ist zwölf. Früher ging er zum Boxen, Schwimmen und Karatetraining. Seit seinem dritten Lebensjahr gewann er Preise bei Schachturnieren. Der Krieg hat ihm die Möglichkeit genommen, zu lernen und zum Training zu gehen. Meine Gespräche mit Denis enden oft mit Überlegungen, wie wahrscheinlich ein Atomkrieg sei.
Meine Söhne sind sehr gute Kinder. Bei jedem Luftalarm schleifen sie alle Hunde und Katzen, die sie unterwegs sehen, in den Luftschutzraum. In den ersten Kriegstagen war TikTok die einzige Abwechslung für meine Söhne und ihr einziger Kontakt zu ihren Freunden. Sie starteten ihre eigenen Accounts, luden Spiele hoch und synchronisierten ihre Lieblingsfiguren aus Zeichentrickfilmen. Das Internet war voller Bedrohungen, schrecklicher Bilder und es war praktisch unmöglich, sie vor diesen negativen Informationen zu schützen.
Unter den Posts meiner Kinder tauchten die traditionellen Fragen der Kreml-Propaganda auf. „Wo wart ihr die letzten acht Jahre, als ihr den Donbass bombardiert habt?“ Das fragten sie einen achtjährigen Jungen und forderten von ihm Rechenschaft für die Kriegshandlungen in den von Russland okkupierten Gebieten. Wo war er? Er lernte „Mama“ zu sagen, aß seinen Brei, machte die ersten Schritte, rannte mit seinem Bruder um die Wette, ging in die Schule, lernte rechnen und schreiben. Und bombardierte mit Sicherheit nicht den Donbass.
Unterstützen Sie die taz Panter Stiftung und ihre Projekte in Osteuropa mit einer Spende. Mehr erfahren
Ich tat alles, um meinen Söhnen ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, zeigte ihnen, dass das Leben weiterging, ihre Lieblingsschauspieler und -sportler sie unterstützten, in zivilisierten Ländern der Welt Tausende Menschen auf die Straße gingen und wir nicht allein waren, dass wir uns vor nichts fürchten mussten … aber dann kam ich einmal nach Hause und sah, wie Denis und Tim am Eingang mit Schild und Schwert standen, um sich gegen den Feind zu verteidigen.
Sie sollten jetzt in der Schule sitzen, Mädchen Briefchen schreiben, Sprachen lernen, Lieder singen, aber jemand hat entschieden, dass es jetzt eine andere Wirklichkeit für sie gibt, in der sie nach einer Möglichkeit suchen, sich zu schützen. Ich sah sie an und dachte: zittert nicht die Hand eines erwachsenen Soldaten, wenn er den Knopf zum Abschuss einer Rakete drückt? Und das Donnern der Raketen kam immer näher und näher.
Unser Haus in Odessa liegt nicht weit vom Militärflughafen entfernt. Die Wände bebten von den schrecklichen Detonationen. Und als eine Rakete in das Haus eines Freundes meiner Söhne einschlug, in dem wir nur einen Monat zuvor alle gemeinsam dessen Geburtstag gefeiert hatten, beschlossen wir wegzuziehen. Ich kann nicht in Worte fassen, wie schwer es ist, seine Heimatstadt zu verlassen, die heimischen vier Wände. Wir waren erst wenige Jahre zuvor dort eingezogen, in die Zweizimmerwohnung, die nach und nach mit Schränken und Schreibtischen eingerichtet wurde, in der die Kinder ein eigenes Zimmer bekamen. Wir mussten das alles zurücklassen, um unser Leben zu retten.
Wir nahmen nur das Nötigste mit, auch die Angelruten, und fuhren in Richtung Republik Moldau. Nach etwa zwanzig Kilometern hörte ich „Mama, wir wollen nicht weg“. Diese Worte sind mir im Gedächtnis geblieben. Es war, als hätte ich auf sie gewartet, weil ich selber ja auch gar nicht weg wollte. Mir schien, dass wenn ich meine Heimatstadt verlasse, dort etwas Schreckliches passieren würde. Es kam mir vor, als hätte ich selber Schild und Schwert, nur unsichtbar.
Ich hielt das Auto an der ukrainisch-moldauischen Grenze an einem Fluss an. Wir holten unsere Angeln und begannen zu lernen, wie man an Nahrung kommt. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir genug zu essen, aber mir war wichtig, meinen Jungs die Angst zu nehmen und ihnen zu zeigen, dass Hunger keine Bedrohung für uns ist. Wir können Fische fangen, Gemüse im Garten anbauen und mit allen Schwierigkeiten klarkommen. Ich versuchte, mit den Kindern zu spielen, ihnen Märchen vorzulesen und in allen Situationen ruhig zu bleiben. Und ich merkte, dass sie sich dadurch sicher fühlten.
Wir lebten etwa eine Woche an der Grenze zu Moldau. Und fuhren dann nach Odessa zurück. Allerdings zu einer Datsche am Stadtrand. Dort gibt es einen Keller, in dem man sich während des Luftalarms verstecken kann, es gibt Internet fürs Homeschooling, einen Gemüsegarten und einen Brunnen.
Man kann sich an den Krieg nicht gewöhnen. Aber wir haben gelernt, in diesem Rhythmus zu leben mit der absoluten Überzeugung, dass alles irgendwann vorbei sein wird, wir siegen und in unser gewohntes Leben zurückkehren können.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen