Ukrainer in Deutschland: Möblierung einer Wartehalle
Zhenya W. floh mit ihrem Sohn aus der Ukraine. Inzwischen hat sie eine eigene Wohnung – und fühlt sich isoliert.
A ls sie am anderen Ende des Flurs die Wohnungstür öffnet, hustet sie erst mal ausgiebig zur Begrüßung.
Acht Monate ist es nun her, dass ich Zhenya W. zum ersten Mal für die taz interviewt habe. Auch damals hat Zhenya viel gehustet und erzählt, sie habe sich auf der Flucht aus der Ukraine angesteckt. Das werde sie frühestens im Mai wieder los. Jetzt, im November, lacht sie und sagt, auch diesmal werde sie sicher noch lang damit zu tun haben.
Es ist wieder Winter in Deutschland, so wie damals, als Zhenya aus der Ukraine angekommen ist. Es hat sich viel verändert seitdem – und irgendwie auch nicht. Denn Zhenya und ihr achtjähriger Sohn Yeghor wohnen seit Oktober in ihrer eigenen kleinen Wohnung, endlich.
„Ich weiß, es war so anstrengend und ich sollte mich freuen“, sagt Zhenya nach einer kurzen Führung ins Wohn- und Schlafzimmer mit einem Schrank, zwei Betten, zwei Sofas, einem Schreibtisch mit Computer und zwei kleinen Regalen mit Schulheften und Büchern.
Es wirkt noch ein wenig kahl und unbewohnt, an den Wänden hängen noch keine Bilder, aber der Umzug ist ja auch noch nicht so lang her. Zhenya setzt sich zu Yeghor und schaut ihm ein wenig dabei zu, wie er eine kleine Melodie auf dem neuen Keyboard übt.
Nach ihrer Flucht Anfang März aus Mykolajiw kamen Zhenya und Yeghor zunächst einmal im Gästezimmer einer deutschen Familie mit zwei Kindern in der Brandenburger Gemeinde Panketal bei Berlin unter. Es folgten aufregende Zeiten. Zunächst galt es, sich zu melden und Geld von der Ausländerbehörde zu beantragen, dann folgte die Umstellung aufs Jobcenter.
Für den Anfang machte Zhenya mit ihrem Sohn privat Deutschlektionen und gleichzeitig den Online-Schulunterricht aus der Ukraine, dann folgte die Einschulung in der Willkommensklasse einer Grundschule in der Gemeinde. Als der Aufenthaltstitel nach drei Monaten noch immer nicht da war, fuhr Zhenya manchmal dreimal die Woche zur Ausländerbehörde.
Bei jedem Treffen wirkte die stolze Zhenya angriffslustiger: Mal versuchte sie, sich zu bewerben, mal fand sie die Kontogebühren zu hoch. Dann dauerte es zu lang, bis die Versichertenkarten kamen, oder es war zu schwierig, einen Termin bei einem bestimmen Arzt zu ergattern.
Zhenya, die Kämpferin
Zhenya war viel unterwegs damals, machte ihre Wege oft zu Fuß, weil es weder um die öffentlichen Verkehrsmittel in Panketal noch um ihre Radfahrkünste gut bestellt ist. Dabei wurde sie so schnell, dass andere kaum mehr Schritt halten konnten. Zhenya, die Kämpferin, ist es gewohnt, die Dinge mit geradem Rücken und ohne Jammern allein durchzufechten: Ihr Mann ist wie viele aus der Hafenstadt Mykolajiw Schiffbauer, er arbeitete vor Kriegsausbruch in Finnland, seit dem Sommer in Frankreich auf einer Werft.
„Ich weiß, ich sollte glücklich sein“, sagt Zhenya noch einmal über ihre Wohnung, „ich will nicht undankbar sein bei allem, was meine Gastgeber für mich getan haben – und andere Menschen aus der Ukraine träumen von so einer Wohnung.“ Immer wieder hatte sie berichtet, wie dringend sie ihre eigenen vier Wände braucht. Wie sehr sie das Gefühl hasst, anderen zur Last zu fallen.
Die Suche dauerte ewig. Bei Sozialwohnungen im Umkreis bekam sie drei Jahre Wartezeit in Aussicht gestellt. Panketal liegt in Brandenburg, aber am nördlichen Stadtrand von Berlin. In der nahe gelegenen Berliner Plattenbausiedlung hätte es vielleicht noch eher Sozialwohnungen gegeben, aber um die Landesgrenze für einen Umzug zu überschreiten, muss man dort, wo man hinziehen will, Arbeit haben. Außerdem wollte Zhenya ihrem Sohn Yeghor nach der Flucht nicht schon wieder einen Neuanfang zumuten, einen Schulwechsel mitten im Jahr.
Zhenya weiß: Es gibt Familien in Panketal, die suchen immer noch. Andere haben ihre ukrainischen Gäste wieder rausgeworfen, sie leben jetzt im Übergangswohnheim Waldfrieden, in der nahe gelegenen Kleinstadt Bernau. Wieder andere sind von Pontius nach Pilatus gelaufen und haben einen barmherzigen Privatvermieter gefunden oder hatten Verbindungen ins Rathaus.
Es gab sogar eine Familie, in der einer der Erwachsenen seinen Integrationskurs hinschmiss und einen Job mit vielen unbezahlten Überstunden im Lieferservice in Berlin annahm, um die Sozialwohnung dort zu bekommen. Der Mann wollte erst mal Deutsch lernen. Dann wollte er sich in einem Bereich auf Jobs bewerben, in dem er in der Ukraine gearbeitet hat. In diesem Bereich herrscht in Deutschland Fachkräftemangel.
Zhenya fand die die Wohnung, in der sie lebt, weil der Eigentümer ein Freund ihrer ehemaligen deutschen Gastgeber ist. „Ohne sie wäre ich niemals hier, sie haben mir mehr geholfen, als sich das jemand vorstellen kann“, sagt sie. Doch dann war die Miete höher als die einer Sozialwohnung und wurde im ersten Anlauf vom Jobcenter abgelehnt.
Erst nach dem Einspruch, einem langen Brief, den ihre Gastgeber für sie schrieben, klappte es endlich. Sie wurde als Härtefall eingestuft.
Mitte Oktober konnte sie anfangen, sich ihre Möbel auf Ebay-Kleinanzeigen zusammenzusuchen. „Unfassbar, was die Deutschen alles verschenken“, fand sie, freute sich aber natürlich auch darüber. Es fühlte sich an wie ein Neuanfang.
In der kleinen Küche
Der Abend ist weiter vorangeschritten, es ist dunkel geworden draußen, und Zhenya hat zu einer Tasse Früchtetee, Obst und Kuchen in die kleine Küche mit dem kleinen Esstisch und den zwei Stühlen geladen. Immer wieder kommt Yeghor angeschlichen, der im Wohnzimmer nebenan irgendwas arbeiten soll, und jammert herum, dass ihm langweilig sei, er will kuscheln, er will zuhören, er will nicht alleine sein drüben.
Sein Deutsch ist wieder besser geworden, fast akzentfrei berichtet er, dass er die Kinder der Gastfamilie vermisst, dass er keine Freunde aus der Schule einladen kann, weil auf den Grünflächen zwischen den Wohnblocks aus den Neunzigern, in denen sie jetzt wohnen, Fußball verboten ist. „Die Spielplätze hier sind anders als in Panketal. Sie sind meistens leer“, ergänzt Zhenya. „Und die Wohnung ist so klein für eine Horde kleiner Jungs.“
Auch Zhenya hat Probleme, in der neuen Umgebung anzudocken. Trocken, wie es ihre Art ist, berichtet sie von den Nachbarn, die sie im Flur grüßt und Schluss. Von den Eltern an der Schule, die sie beim Bringen und Holen von Yeghor einfach nicht kennen lernt. Von ihrer Hilflosigkeit, wenn sie Leute im Supermarkt etwas fragt und bis jetzt noch kein einziges Mal die Antwort verstanden hat. „Ich vermisse meine Gastfamilie“, seufzt sie.
Alle paar Tage trudelt eine SMS von ihrer Gastgeberin mit der Frage ein, ob sie Hilfe bei Dokumenten braucht, zum Geburtstag hat sie einen schönen Rucksack von ihr bekommen. „Es ist trotzdem anders. Wir haben ein halbes Jahr mit ihnen zusammengelebt, wir konnten über alles reden.“ Sie hat Kontakte zu ein, zwei anderen Familien aus der Ukraine, die ebenfalls im Frühjahr in Panketal angekommen sind. Andere Freunde kann oder will sie keine finden.
Am Tag unserer Verabredung sind in Zhenyas Heimatstadt Mykolajiw sechs Personen gestorben. Schon im April sprengten russische Soldaten die Wasserleitung in die Luft. Seither wird die Stadt mit salzigem Nutzwasser aus dem Fluss versorgt, das nun die übrigen Wasserleitungen zerstört hat. In den Krankenhäusern sind alle Betten belegt, dazu gibt es häufig Stromausfälle und zerschlagene Fenster durch frühere Raketeneinschläge, die mit Sperrholz vernagelt sind.
Die Bilder vom Krieg im Winter erinnern an die Bilder vom Krieg vor neun Monaten. Die Menschen in ihrer Heimat frieren wieder. Zhenyas Mutter lebt noch in Mykolajiw.
Registrierung Zwischen Ende Februar und dem 13. Dezember 2022 wurden laut dem Bundesinnenministerium 1.036.135 Geflüchtete aus der Ukraine im Ausländerzentralregister registriert. Von ihnen haben, Stand November, 672.706 Personen bereits vorübergehenden Schutz erhalten, also rund 61 Prozent.
Arbeit Laut Bundesagentur für Arbeit stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit von 57.000 im Februar auf rund 116.100 Beschäftigte im September 2022. In der im Oktober durchgeführten Studie „Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland“ gaben 17 Prozent der Ukrainer:innen im erwerbsfähigen Alter an, erwerbstätig zu sein.
Bildung Stand Ende November besuchen 200.944 ukrainische Schüler:innen allgemeinbildende und berufsbildende Schulen, so die Kultusministerkonferenz. Einen Integrationskurs haben zu diesem Zeitpunkt laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge rund 185.000 ukrainische Erwachsene begonnen. Einen Erstorientierungskurs absolvierten 21.600 Personen, so ein BAMF-Sprecher auf Anfrage des „Redaktionsnetzwerk Deutschland“.
Wohnen Fast drei Viertel aller Befragten der Studie „Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland“ gaben an, in einer privaten Unterkunft zu wohnen. Neun Prozent der ukrainischen Studienteilnehmer:innen gaben an, in einer Gemeinschaftsunterkunft zu wohnen. Konkrete Zahlen darüber wie viele geflüchtete Ukrainer:innen bereits in eigenen Wohnungen wohnen, gibt es noch keine. (ls)
Zhenya und ihr Mann besitzen auch ein Einfamilienhaus in Mykolajiw. Sie haben es erst vor Kurzem saniert. Aber sie haben niemanden, den sie bitten können, nach dem Haus zu sehen. Der Weg dorthin wäre zu gefährlich. Das Haus ist nicht beheizt und wird nun nass. Die Wasserleitungen könnten platzen. „Das tut weh“, sagt Zhenya.
Und trotzdem kann sie den endgültigen Schnitt nicht machen. Na klar, für Yehor ist es besser hier. Aber für ihren Mann und sie ist die Ukraine vor dem 24. Februar das Land, in dem sie leben möchten.
Und dann versiegt unser Gespräch ein wenig. Nach einer längeren Pause fragt Zhenya, ob wir unsere Treffen und die Texte über sie wirklich fortsetzen müssen. Sie findet, dass sie genug von sich preisgegeben hat. Dass sie genug an die Ukraine denkt und durch die Fragen an sie nicht noch mehr darüber nachdenken möchte. Sie hat Sorge, dass sie in der Öffentlichkeit erkannt werden könnte, und lässt sich auch nicht mit dem Argument überzeugen, dass diese Zeitung klein ist und in Bernau fast nirgends zu kaufen ist.
Der Krieg wird weitergehen
Sie hält dagegen: Was gibt es denn noch zu sagen? Sie hat nun die Wohnung, das Geld vom Jobcenter kommt regelmäßig. Der Krieg in der Ukraine wird weitergehen. Ihr Heimweh auch. Im Juni wird sie ihren Deutschkurs auf dem Level B1 fertig haben. Um in ihrem Beruf als Englischlehrerin arbeiten zu können braucht sie Level C2, ein langer Weg.
Es wird jetzt nicht mehr viel zu berichten geben, findet sie.
„Ich werde nicht aufhören, dich zu fragen“, sträube ich mich, und Zhenya muss lachen.
Zwei Wochen später schreibe ich die erste Textnachricht, ob sie schon Pläne für Weihnachten hat. „Bin immer noch nicht über die Bronchitis weg. Habe keine Pläne und werde keine machen. Klingt depressiv, aber ich habe keine Kraft.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles