Schulplatzmangel für Geflüchtete: Viel zu lange Ferien

Neue Schulplätze für geflüchtete Kinder entstehen immer langsamer. In den Notunterkünften steigt derweil die Verweildauer – ohne Schulangebot.

Blick auf T-Shirt mit Herz in ukrainischen Farben, im Hintergrund ein Klassenzimmer

Große Solidarität: Viele Schulen haben Willkommensklassen eingerichtet seit Kriegsbeginn Foto: picture alliance/dpa/Annette Riedl

BERLIN taz | Die Tür zu Raum 209 im zweiten Stock des ehemaligen Schulgebäudes in Schöneberg ist nur leicht angelehnt. Konzentriertes Stimmengemurmel auf Englisch und Ukrainisch dringt auf den Flur. Drinnen wiederholt eine Schü­le­r*in­nen­grup­pe englische Zeitformen. Andere blicken auf die Tafel: Algebra, die Variablen x und y wollen berechnet werden.

Der Anschein schulischer Normalität trügt: Der Verein „Schöneberg hilft“ hat hier, unweit des S-Bahnhofs Südkreuz, bereits kurz nach Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 ehrenamtlich Lerngruppen für ukrainische Kinder und Jugendliche eingerichtet – weil reguläre Schulplätze in der Stadt Mangelware sind. Einen geregelten Schulalltag gibt es für viele geflüchtete Kinder erst Wochen oder Monate nach der Registrierung in Berlin.

Man verstehe sich deshalb als „Brücke“, als „Nothilfe“, sagt Schöneberg-hilft-Mitgründer Hans-Jürgen Kuhn. 30 Kinder, aufgeteilt in mehrere Lerngruppen, lernen hier an drei Tagen pro Woche – nach ukrainischem Lehrplan. Die sechs Lehrerinnen sind selbst aus der Ukraine geflüchtet. Computer und Materialien hat der Verein über Spenden beschafft, teils auch über Fördermittel von Stiftungen. Es gebe immer mehr Kinder auf der Warteliste, als sie Plätze anbieten könnten, sagt Kuhn.

Tatsächlich wissen die bezirklichen Schulämter kaum noch, wo sie geflüchtete Kinder unterbringen sollen. Die Bildungsverwaltung verweist zwar auf 7.373 ukrainische Kinder, für die man seit Kriegsbeginn einen Schulplatz gefunden habe. Allerdings: Das Tempo, mit dem neue Lerngruppen geschaffen werden können, stag­niert. Ab Ende Januar kamen innerhalb von vier Wochen nur Plätze für 123 Kinder dazu, wie eine taz-Anfrage ergeben hat – berlinweit.

„Derzeit sind die Schulplätze in den Willkommensklassen ausgeschöpft und es wird eine Warteliste geführt“, teilt der Schulstadtrat von Tempelhof-Schöneberg, Tobias Dollase (parteilos, für CDU) mit. 77 Grundschulplätze und 112 Oberschulplätze fehlen Dollase. Etwa die Hälfte der Kinder auf der Warteliste seien ukrainische Staatsbürger*innen.

Zu kleine Unterrichtsräume

Wie groß die Raumnot ist, zeigt sich auch daran, dass die Schulen die maximale Gruppenstärke von 15 Kindern mitunter gar nicht voll ausschöpfen können, „weil die Räume der Lerngruppen zu klein für eine Erhöhung der Kapazitäten sind“, wie Dollase schreibt.

Mittes Schulstadträtin Maja Lasić (SPD) berichtet von 34 Schü­le­r*in­nen auf der Warteliste, davon sieben ukrainische Kinder im Grundschulalter. Für die jüngeren Schü­le­r*in­nen sei es besonders herausfordernd, einen Schulplatz zu finden, weil die Wege nicht zu weit werden dürfen. Lasić lagert in Mitte inzwischen auch einzelne Lerngruppen an die Volkshochschule aus, weil es dort noch Raumkapazitäten gibt.

Aus Reinickendorf heißt es hingegen, das sei keine Option. Aber das Schulamt könne „in der Regel innerhalb von 2 bis 3 Wochen“ einen Platz vermitteln. Schulstadtrat Harald Musch­ner „(CDU) findet das „sehr zügig“. Die Schulen richteten „laufend neue Willkommensklassen in den Grund- und Oberschulen“ ein.

Innerhalb von vier Wochen kamen nur Schulplätze für 123 Kinder dazu – in ganz Berlin

Hans-Jürgen Kuhn von „Schöneberg hilft“ plädiert dennoch dafür, auch die Räumlichkeiten freier Träger etwa aus der Jugendhilfe verstärkt für Lerngruppen zu nutzen: „Ich bekomme von vielen Einrichtungen die Rückmeldung: Bei uns stehen vormittags die Räume leer.“ Er schätzt, dass man allein in Schöneberg dadurch schnell Raum für „20 Lerngruppen zu jeweils 10 bis 12 Kindern“ schaffen könne.

Kuhn vermisst Unterstützung für seine Ideen aus der Bildungsverwaltung. Es gebe die „Doktrin, dass Integration nur über die Regelschule möglich sei“, glaubt er. Dabei sei es ja auch ein „psychosoziales Entlastungsmoment“, wenn den Kindern zumindest vormittags ein bisschen Normalität geboten werden könne. Und wieso nicht weitermachen im ukrainischen Lehrplan – während man auf den Platz in der Willkommensklasse zum Deutschlernen warte? „Man darf das nicht gegeneinander ausspielen“, sagt Kuhn.

Nadelöhr Unterbringung

Weil die Stiftungsmittel Ende Februar auslaufen, hat er über das Programm „Fit für die Schule“ Geld für Lerngruppen beantragt. Das Programm läuft über die Deutsche Kinder- und Jugenstiftung, gefördert von der Bildungsverwaltung. Kuhn hofft das Angebot in Schöneberg auf täglichen Betrieb ausweiten und auch Deutschgruppen anbieten zu können. Laut Kuhn gibt es dafür noch keine Finanzierungszusage.

Die Bildungsverwaltung widerspricht auf taz-Anfrage: Die Fortsetzung der bereits bestehenden Lerngruppen sei „gesicher“, so ein Sprecher. „Eine Ausweitung der Anzahl der Gruppen ist geplant.“

Ein riesiges Nadelöhr für die Schulplatzsuche ist allerdings auch die schwierige Unterbringungssituation. Ein Sprecher des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten, kurz LAF, sagt: „Zurzeit kann es auch mal 2 bis 3 Monate dauern, bis wir eine adäquate Unterkunft gefunden haben. Die Kapazitäten in den Gemeinschaftseinrichtungen sind weiterhin knapp.“ Ein Sprecher der Integrationsverwaltung spricht von „im Durchschnitt um die 40 Tage“ Wartezeit für Familien, „im Einzelfall kann es schneller gehen“.

Erst wenn die Kinder aus den großen Notunterkünften in Tegel – für die ukrainischen Geflüchteten – sowie Reinickendorf und Tempelhof in den Gemeinschaftsunterkünften in den Bezirken untergebracht werden, werden sie überhaupt als schulpflichtig im jeweils zuständigen Schulamt gemeldet. Bis dahin passiert sehr oft: nichts. Hans-Jürgen Kuhn sagt, es brauche Angebote, quasi Pop-up-Schools, direkt in den großen Notunterkünften. Die Bildungsverwaltung äußert sich auf Anfrage nicht dazu, ob man diese Notwendigkeit ebenfalls erkennt.

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