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Überwachung bei der Fußball-EMPolizeispiele ohne Grenzen

Grenzkontrollen, zweifelhafte Polizei-KIs und Live-Tracking: Bei der EM in Deutschland wurden vermeintliche Überwachungsfantasien zur Realität.

Mannschaftsfoto der Polizeikräfte im Berliner Olympiastadion vor dem EM-Finale Foto: Shutterstock/imago

Erinnert sich noch jemand an die Männer-EM 2024? Dieses Turnier, das ein Narkotikum gegen gesellschaftliche Spaltung, Kriege und Krisen sein sollte und am Ende halt ein paar Wochen Fußball war? Auffällig ist, wie die EM mit Abpfiff aus der Öffentlichkeit verschwand. Während zum Sommermärchen noch Jahre später Elogen verfasst wurden, hat sich Deutschland still von dieser Euro abgewandt.

Wie beschämt davon, dass der versprochene gesellschaftliche Zaubertrank am Ende nur ein Schluck Bier war. Ein öffentliches Aufarbeiten des Geschehenen blieb aus. Dabei hat diese EM durchaus etwas im Land verändert. Zum Beispiel dies: Polizei und Uefa haben massiv in Grundrechte und Privatsphäre eingegriffen. Und teils wirken diese Maßnahmen weiter.

Am 14. Juni 2024 beginnt die Heim-EM. Ab dem 7. Juni führt die Bundespolizei „vorübergehend Grenzkontrollen“ an allen Landesgrenzen, auch im Westen und Norden, ein. Der Staat rüstet auf wie nie für ein deutsches Turnier. Laut Innenministerium ist es der größte Einsatz in der Geschichte der Bundespolizei, 22.000 Kräfte jeden Tag für die EM. Ob das verhältnismäßig oder effektiv sei, fragt niemand. Die Angst, besonders vor Terroranschlägen ist riesig. Grundrechtsverstöße der Uefa wie Demoverbote am Stadion gehen fast ohne Widerstände durch.

Auf taz-Anfrage erklärt die Bundespolizei, dass durch ihre Einsätze Mehrkosten von rund 43 Millionen Euro entstanden seien. Zum Vergleich: Für eine Saison der ersten und zweiten Männer-Bundesliga rechnen die letzten vorliegenden Kalkulationen mit rund 100 Millio­nen Euro Polizeikosten. Das wäre ein Monat zum Preis von fast einem halben Jahr. Und natürlich geht es inmitten der aufgeheizten Migrationsdebatte um mehr als Fußball.

Null-Effekt der ausgeweiteten Grenzkontrollen

Der Nutzen einzelner Überwachungsmaßnahmen lässt sich, wenn es überwiegend ruhig blieb, schwer bewerten. Denn stets können Bundesregierung und Polizei argumentieren: Ohne jede einzelne Maßnahme wäre etwas passiert. Innenministerin Nancy Faeser ließ sich zitieren: „Unsere starken Sicherheitsmaßnahmen haben in allen Bereichen gewirkt.“

Doch Kontrollen lassen sich durchaus quantifizieren. Eine Kleine Anfrage der Linken ergab, dass bei den 1,6 Millionen Personengrenzkontrollen während der EM 78 „Gewalttäter Sport“ gefunden wurden. Diese überschaubare Gruppe wurde meist im Flugverkehr und an den Grenzen zu Österreich und Tschechien aufgegriffen, dort also, wo es sowieso schon Kontrollen gab. An allen anderen Grenzen fand die Polizei zwischen null und drei Menschen – ein sprichwörtlicher Null-Effekt.

Schon während des Turniers wird der Erfolg der Maßnahme vor allem an Zurückweisungen von illegalisierten Mi­gran­t:in­nen bemessen. Die Unionsparteichefs Friedrich Merz und Markus Söder schreiben direkt nach der EM einen Gastbeitrag in der Bild-Zeitung: „Die Grenzkontrollen müssen bleiben!“ Auch die FDP will eine Verlängerung, die AfD jubelt. Und nach dem Messer­attentat von Sohlingen geschieht genau das: die Bundesregierung ver­stetigt die Kontrollen. Die EM hat Grenzen verschoben. Sie hat eine weitere Aufweichung von EU-Recht vorstellbar gemacht – und damit machbar.

„Wir Fans wurden als Spielball benutzt, um die Migrationsdebatte zu befrieden“, kritisiert Oliver Wiebe heute. „Die EM wurde politisch instrumentalisiert.“ Wiebe engagiert sich im Dachverband der Fanhilfen, einer Rechtshilfe von Fans für Fans. Er hält die umfassenden EM-Grenzkontrollen für einen politischen Probelauf. „Oft werden auf dem Rücken der Fußballfans Maßnahmen für die Polizei eingeführt, die dann aber eben nicht nur beim Fußball angewendet werden.“

Polizei-KI am Parlament vorbei

Neue Befugnisse, neues Material, neue IT-Strukturen, als Beispiel nennt er Stuttgart. „Die Polizei Stuttgart hat ohne Beschluss eines Parlamentes eine eigene Polizei-KI für die EM entwickelt.“ Dabei ging es um eine Software zur Simulation von Personenströmen, die mit Überwachungsbildern von Drohnen und Kameras arbeitet, künftig wohl auch mit anonymisierten Handydaten. Solche Software kann beim Crowd-Management helfen, birgt aber auch extremes Missbrauchspotenzial. Die KI soll, wenn sie sich bewährt, zum Standard für Großveranstaltungen werden.

Warum wurde über all das so wenig gesprochen? Wiebe räumt ein, dass die Kritik an den EM-Maßnahmen „viel zu gering“ gewesen sei. Viele aktive Fans interessierten sich nicht fürs Nationalteam. Angesichts des autoritären Rucks sei es zudem immer schwerer für Fans, Stimmen in den Parlamenten zu finden.

André Hahn schildert Ähnliches. Der sportpolitische Sprecher der Linken im Bundestag beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Sport und Sicherheit. „Ich habe hier im Parlament erlebt, wie es überall hieß: Es darf auf gar keinen Fall irgendetwas passieren. Es gab ganz wenige, die sich kritisch zu den Sicherheitsmaßnahmen geäußert haben, und die wurden dann noch als Miesmacher hingestellt. Da war kein Raum für kritische Stimmen.“ Hahn möchte nicht so weit gehen zu sagen, dass die Grenzkontrollen ein Testlauf waren. „Aber ich könnte mir vorstellen, dass man im Nachhinein bei der Auswertung gesehen hat: Vielleicht könnte das auch perspektivisch ein probates Mittel sein.“

Die taz hat der Bundespolizei einen ausführlichen Fragebogen zum Nutzen der EM-Grenzkontrollen und zur Bewertung der Sicherheitsmaßnahmen gestellt. Die Polizei antwortet, es finde „derzeit eine umfangreiche Nachbereitung der Einsatzkonzepte“ statt. Ergebnisse gebe es wohl bis Jahresende. Da es maßgeblich um einsatztaktische Maßnahmen gehe, deren Inhalte „als Verschlusssache eingestuft sind“, werde sie aber dazu keine öffentlichen Angaben machen. „Grundsätzlich ist jedoch festzustellen, dass sich der Einsatz der Bundespolizei sowohl aus polizeilicher als auch sicherheitspolitischer Sicht bewährt hat und insbesondere die grenz- und bahnpolizeilichen Gefahrenfilter zur positiven Bilanz der Uefa Euro 2024 beigetragen haben.“ Wieder keine öffentliche Aufarbeitung also.

Vergünstigungen und Tracking

Dabei bleiben viele Fragen offen. Das betrifft nicht nur zweifelhafte KIs und die derzeit teils verfassungswidrige Datei Gewalttäter Sport, in der knapp 700 ausländische Fans zur EM landeten, sondern auch Live-Tracking. Der BR berichtete zur EM, dass die Uefa in ihrer verpflichtenden Ticket-App Bewegungen von Fans ohne deren Wissen tracke und, so war impliziert, diese Heatmaps mit der Landespolizei teilte. Gefilmt wurde im Lagezentrum München.

Kurz war die Aufregung groß. Wie diese taz-Recherche ergab, war der BR-Bericht allerdings an einer zentralen Stelle falsch. Das Tracking fand nicht in der verpflichtenden Ticket-App statt, sondern in der freiwilligen EM 2024-App, wie Fans und Uefa bestätigen. Die Uefa schickt der taz einen Screenshot, der belegen soll, dass Fans dort ihre Standortdaten informiert und freiwillig teilen konnten. Da die App nicht mehr im App-Store verfügbar ist, lässt sich das nicht verifizieren.

Trotz der fehlerhaften Recherche gibt auch dieser Eingriff Anlass zur Sorge. „Eine kostenlose Fahrt am Spieltag im regionalen ÖPNV-Verbund ging nur mit der App“, sagt Simon Bender von der Fanhilfe Mönchengladbach. Wer Vergünstigungen wollte, brauchte die App also trotzdem. Und: „Uns wurde von Fans gespiegelt, dass ihnen das Live-Tracking nicht bewusst war.“ Womöglich sahen allerdings Fans beim Uefa-Hinweis nicht genau hin. Ob diese Daten irgendwo gespeichert sind und wer darauf Zugriff hatte, ist unklar.

„Selten die volle Wahrheit“

Niemand will beteiligt gewesen sein: Die Bundesregierung verweist die Verantwortung an die Uefa, die Bundespolizei sagt der taz, sie habe vom Live-Tracking „keine Kenntnis“ gehabt. Linken-Politiker André Hahn kommentiert: „Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt. Und die Bundesregierung hat offen gelassen, ob die Landespolizeien das genutzt haben. Die Frage hätte man ja über eine kurze Nachfrage bei den Ländern beantworten können. Nach meiner Erfahrung als Abgeordneter: Wir haben selten die volle Wahrheit gesagt bekommen.“

Die Uefa antwortet der taz, sie habe die Daten „nur für Crowd-Management“ genutzt. „Alle Standortdaten auf der Heatmap waren voll anonymisiert. […] Zu keinem Zeitpunkt wurden persönliche Daten mit der Polizei geteilt.“ Auch seien keine persönlichen Daten gespeichert worden. Das Bayerische Innenministerium schreibt: „Diese Daten hatten für die Bayerische Polizei keinerlei Relevanz und wurden zu keinem Zeitpunkt des Einsatzes erhoben, genutzt oder anderweitig ver­arbeitet.“ Das lässt den Schluss zu, dass die Landespolizei Kenntnis hatte. Das suggeriert auch eine Uefa-Antwort: „Die Behörden der Austragungsstädte konnten nur die Heatmaps auf den Bild­schirmen und den Dashboards in den Kommandozentralen des Veranstaltungsortes sehen.“ Und wozu s­ehen, was man nicht nutzt?

Mancher fürchtet, dass auch dies Türen öffnet. „Früher oder später kommt ein App-Zwang auch in den nationalen Ligen“, glaubt Bender. „Von dort ist es dann zu Heatmaps und Tracking nur ein kleiner Sprung.“ Bei der EM wird Zukunft gemacht. Schlecht für eine Gesellschaft, deren Mehrheit glaubt, sie selbst habe nichts zu fürchten.

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