Übergriffe in Geflüchtetenunterkunft: Sexuelle Gewalt und „Dönekens“
In der Geflüchtetenunterkunft Ehra-Lessien bei Gifhorn soll es zu Übergriffen gekommen sein. Der Landrat muss sich unangenehme Fragen gefallen lassen.
Der Vorwurf: In der Sammelunterkunft des Landkreises Gifhorn wird weggeschaut, es gibt keinen Schutz für Frauen, Kinder und andere vulnerable Gruppen. Ausgestrahlt wurde dieser Beitrag schon vor zwei Wochen. Für Unruhe sorgt er noch immer.
Für politischen Wirbel sorgte dabei zunächst ein Randaspekt: die ungeschickten Formulierungen des amtierenden SPD-Landrates Tobias Heilmann. Die Kritik entzündet sich vor allem an einer Szene. „Haben Sie einen Überblick, zu wie vielen Übergriffen es da so kommt?“, will die NDR-Reporterin wissen.
Antwort des Landrates: „Jetzt müssen wir unterscheiden. Was sind Übergriffe? Also, wenn wir allein reisende Männer haben? Wenn man, wenn ich das sage, ich von mir selber, wenn man mich mal länger mit Männern zusammen in einer Unterkunft unterbringt, dann kommen wir auch auf Döneken.“
Die Unterkunft wird schon lange kritisiert
Sexuelle Gewalt als „Döneken“ zu bagatellisieren kam nun bei keiner Fraktion gut an. Ein Sturm der Entrüstung tobte durch die lokalen Zeitungen – Heilmann entschuldigte sich für die Formulierung, rechtfertigte sich aber gleichzeitig damit, der Beitrag sei unglücklich geschnitten worden.
Das wiederum mag die Panorama-Redaktion nicht auf sich sitzen lassen: Eine Woche nach dem Ursprungsbeitrag veröffentlicht sie das ungeschnittene Interview mit dem Landrat auf der Webseite. Und auch darin macht Heilmann keine viel bessere Figur.
Gleichzeitig meldet sich in den Wolfsburger Nachrichten eine der ehrenamtlichen Geflüchtetenhelferinnen zu Wort und erklärt, sie halte den NDR-Beitrag für übertrieben und erlebe die Unterkunft selbst ganz anders.
Ein Teil des Problems scheint zu sein, dass sich hier verschiedene Kritikpunkte vermischen: Da ist zum einen die Kritik an der Unterkunft selbst – und zum anderen die Forderung des Flüchtlingsrates nach besseren Gewaltschutzkonzepten, die längst nicht nur für diese Unterkunft gilt.
Beschwerden wurden ignoriert
Kritik an der Unterkunft Ehra-Lessien gibt es schon lange und immer wieder. Es handelt sich um einen alten Truppenübungsplatz mitten im Wald. Rundherum ist nichts, bis zur nächsten Bushaltestelle läuft man 30 Minuten.
Das, findet vor allem der Flüchtlingsrat Niedersachsen, geht auf die Dauer so nicht. „Auch wenn es da ein tolles ehrenamtliches Engagement gibt, das wir grundsätzlich sehr wertschätzen, ist Integration so einfach nicht möglich“, sagt Laura Müller vom Flüchtlingsrat.
Aktuell wohnen dort rund 450 Personen, etwas mehr als die Hälfte sind Geflüchtete aus der Ukraine, der Rest kommt aus verschiedenen afrikanischen Ländern, dem Nahen Osten und Osteuropa.
Beschwerden, vor allem von Frauen, die sich dort nicht sicher fühlen, gebe es seit Jahren, sagt der Flüchtlingsrat. Man habe auch mehrfach versucht, mit dem Landrat (und auch schon seinem CDU-Vorgänger) ins Gespräch zu kommen, sei aber abgeblitzt. Auf taz-Anfrage verspricht der Landkreis Besserung: Es werde demnächst ein Gespräch geben, bisher habe man sich vor allem mit den Ehrenamtlichen vor Ort ausgetauscht.
Gewaltschutz wird unterschiedlich verstanden
Ein weiterer Teil des Problems scheint allerdings zu sein, dass es unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, was Gewaltschutz ist und was er leisten könnte. Vorschrift sind Gewaltschutzkonzepte bisher nur in den Aufnahmeeinrichtungen des Landes, den Kommunen wird empfohlen, sich daran zu orientieren – verpflichtet sind sie dazu aber nicht.
In dem Fernsehinterview lässt Heilmann immer wieder durchblicken, dass er so was sowieso eher für eine Formalie hält. Ob man das unbedingt auf Papier bräuchte, wisse er nicht. Wichtig sei doch, dass das gelebt werde.
Dieses „Gelebt-werden“ scheint sich in Ehra-Lessien allerdings darauf zu beschränken, allein reisende Männer, Frauen und Familien möglichst in unterschiedlichen Häuserblöcken unterzubringen und ansonsten darauf zu setzen, dass die Betroffenen sich schon bei den Mitarbeitern bemerkbar machen, wenn etwas ist.
Auch im Nachhinein und in seiner Kritik an der Berichterstattung beharren der Landrat und seine Leute immer wieder darauf, dass ja gar keine strafrechtlich relevanten Anzeigen vorlägen – abgesehen von einer versuchten Vergewaltigung.
Wachschutz häufig ein Teil des Problems
Der Flüchtlingsrat beharrt darauf, dass Gewaltschutz sehr viel früher ansetzen sollte. Denn natürlich bewegen sich viele der alltäglichen Belästigungen in einer Grauzone und erfahrungsgemäß ist die Anzeige- und Beschwerdebereitschaft gering bei Menschen mit einer hohen Sprachbarriere, die zudem häufig aus Systemen kommen, in denen Polizei und Behörden eher Probleme machen als Hilfe bieten.
Dazu kommt das Konfliktpotenzial, das durch diese Art von Kasernierung in Gemeinschaftsunterkünften entsteht – und das enorme Machtgefälle zum Beispiel zwischen Wachleuten und Bewohnerinnen.
Ein individuelles Gewaltschutzkonzept, so argumentiert der Flüchtlingsrat, würde zumindest dazu zwingen, eine genaue Bestandsaufnahme zu machen: Wo sind hier die Angsträume, die Punkte, an denen Frauen regelmäßig an einem Rudel gelangweilter und unterbeschäftigter Männer vorbei müssen? Wo sind die Schutzräume, sind Schlafräume, Duschen und Toiletten einzeln abschließbar?
Auch die wechselnden privaten Betreiber und Sicherheitsdienste könnten so auf verbindliche Standards und Schulungen ihrer Mitarbeiter festgelegt werden. Vor allem der Wachschutz ist in vielen Einrichtungen eher ein Teil des Problems als der Lösung, sagt der Flüchtlingsrat.
Auch in Ehra-Lessien sollen die Mitarbeiter oft einfach in die Zimmer kommen. Eigentlich sollte das nur in Notfällen geschehen, sagt der Landrat. Oder zum Durchsetzen der Hausordnung, also wenn es zu Ruhestörung oder Verstößen gegen das Alkohol- und Rauchverbot auf den Zimmern komme. Das klingt allerdings eher nach Freibrief.
Im Durchschnitt zweimal in der Woche ist die Polizei auf dem Gelände. Das macht es schwierig, weiter so zu tun als sei alles in Ordnung in Ehra-Lessien. Mit den Konsequenzen wird sich der Kreistag noch befassen, sowohl die CDU als auch die Grünen haben Anträge angekündigt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen