Über das Gefühl der Gleichgültigkeit: Das Kriegsenkelsyndrom
Wenn nach Anschlägen kein Raum für Emotionen ist, sondern einem abgekühlte Analysen entgegen schlagen, dann ist das Kälte, nicht Coolness.

1960-Geborene wachsen heran zu Menschen mit Kühlschrank-Seelen Illustration: taz
Eine sonst überaus gutartige Freundin hinterfragt sich, weil sie beim Anblick von Beatrix von Storch nur blanken Hass verspüre. Ich versichere ihr, das sei völlig okay. Sie solle sich die gesunde Empfindung bitte nicht verderben lassen.
Von heiliger Empörung über echte gesellschaftliche Schieflagen könnte ich mir eine Scheibe abschneiden: Klima, Moria, you name it. Anstatt mich immer nur wegen ichbezogener Lappalien aufzuregen. Wenn mir einer die Vorfahrt nimmt oder mein Team verliert, bin ich auf einmal lebendig. Sonst ist mir immer alles egal. Das ist schon bitter.
Meistens köchelt die Empathie bei uns Mittelalten nämlich auf Sparflamme – in der Hölle wird es später eh noch heiß genug. Zum Beispiel nach einem Attentat: Die Opfer sind noch nicht kalt, da setzt in den sozialen Hetzwerken bereits das Androsplaining ein: Man müsse jetzt sofort dieses oder jenes abwägen und unbedingt kühlen Kopf bewahren. Emotionen seien grundsätzlich fehl am Platz, Trauer und Entsetzen die manieristischen Marotten halbdebiler Jungmenschen und Frauenzimmer; am Ende wird noch über die Ausstattung des Lkws gefachsimpelt, mit dem der Mörder die Leute zu Brei fuhr.
Jeder zwischenmenschliche Aspekt scheint ausgeblendet. Nicht, dass ihre Analysen falsch wären, zuweilen sind sie sogar ganz gut. Denken können sie ja. Aber sie lassen den geschockten Mitmenschen keine Atempause für ihre Anteilnahme. Denn was sie selbst nicht besitzen, kann nur ein Fehler sein. Also feiern die Andropausenmänner ihre eigenartige Seelenkälte noch als Coolness ab und nageln sich daraus eine höhere politische Vernunft oder „allgemeingültige“ Moral zusammen.
Eine Seele wie ein Kühlschrank
Sie sehen sich als neutrale Überinstanz; ein alarmierender Defekt wird zur altersweisen Abgeklärtheit geadelt – „das Lied der lebenden Leichen“ nennt mein Urologe Zbigniew unser lautes Ansingen gegen die Angst vor dem eigenen Sentiment. Mit üblen Folgen auch für uns selbst: Was weich ist, biegt sich; was hart ist, bricht.
Zunächst ist dieses typische „Kriegsenkelsyndrom“ ja eher bedauernswert. Mitgefühl kann man nicht einfordern. Die Seele vieler in den 1960ern Geborenen ist nun mal in einem Kühlschrank ohne Griff und Licht gefangen. Aber ein bisschen mehr Krankheitseinsicht wäre zu wünschen. Man könnte versuchen, den exotischen Emokram wenigstens rational zu begreifen.
Wir könnten uns menschliche Regungen von anderen abschauen, sie wie eine Fremdsprache notdürftig erlernen. Das spräche immerhin von gutem Willen. Man kann doch zumindest so tun, als wäre man ein Mensch.
Leser*innenkommentare
aujau
Als in den 60ern des letzten Jahrhunderts geborene Person muss ich feststellen, dass es mehrere Generationen Kriegsenkel gibt, insbesondere in Deutschland. Die beschriebene Gefühllosigkeit wird seit einigen Jahrhunderten anerzogen, unter Anderem auch durch die Kultur der Demütigung und Herabsetzung von Kindern. Alles nicht so neu. Relativ neu sind nur Straßenverkehr und Nachrichtensendungen.
aujau
@aujau Ergänzend noch ein Musikhinweis:
Hannes Wader: Schön ist die Jugend.
Redenknecht
Ja, das kann man so machen, Herr Hannemann!
Eine coole Analyse der eigenen männlichen Alterskohorte mit ein bisschen Selbst- und mehr Fremdabwertung. Geht immer!
Auch wenn es offensichtlich gute Gründe gibt, warum derjenige, der in den 60er geboren wurde, so ist, wie er ist: Kriegsenkel und so – alles klar: richtig ist’s natürlich nicht! Und dann passen ja auch die gut abgehangenen Vorwürfe aus Gruppendynamik, Sitzkreis und Selbsfindungsdingsda. Hatten wir alles schon – mehrfach – außer Schuldgefühlen und Selbstverrenkungen, es endlich richtig zu machen, kommt da meist nicht raus. Bist eben noch nicht weit genug!
Sollte der Befund zutreffend sein, dann könnte es doch wertschätzende und wertfreie Anteilnahme geben. Nur mal so ins Blaue: Da gibt’s eine ganze halbe Generation, die kann was nicht (Hüpfen, Rechtschreibung, Samba, zeitangepasster Gefühlsausdruck, egal was), weil‘s eben nicht vorgesehen oder lernbar war. Und nur zur Erinnerung: einarmige Klavierspieler werden in der Regel nicht angezählt wenn sie Schwierigkeiten mit Rachmaninow haben.
Was also schreiben, wenn man darüber meint schreiben zu müssen?
Wie gelingt es Euch, Euren Gefühlen Ausdruck zu verleihen?
Wie macht ihr das?
Wie geht Ihr sonst noch damit um?
Was davon ist befriedigend?
Wo sucht Ihr noch nach einem zu Euch passenden Ausdruck?
Was wünscht Ihr Euch in der Kommunikation, wenn in Euch die Dinge nicht ganz rund laufen?
Und wenn man keinen zum Fragen findet, könnte der Text das Antworten aus der eigenen Innenwelt sein. Und das könnte dann wirklich interessant sein…
Nur so ne Idee vom Redenknecht.
Trabantus
Nur leider verwechseln manche Menschen das Vermeiden vorurteilsschwangerer Schnappatmung nebst Emotionsschaum vorm Maul mit Gefühlskälte.
Emmo
@Trabantus Genau, das kann ich nur unterschreiben! Thomas Fischer schreibt zu diesem Thema praktisch wöchentlich in seiner SPIEGEL-Kolumne ;-)
Lowandorder
Ja Uli - so sinnse - die Kühlschrankseelen! Gellewelle.
“ . Also feiern die Andropausenmänner ihre eigenartige Seelenkälte noch als Coolness ab und nageln sich daraus eine höhere politische Vernunft oder „allgemeingültige“ Moral zusammen.“
kurz => - “Booey. Wieder keine Butter da.“ - 😱 -
Tipp: - Einfach mal die Pampers - ausziehn! -
I weiß - die wiegen so unendlich schwer.
Aber. Das wird.
unterm—- & a weng 🎶 Ludwig laß gehn -
www.youtube.com/watch?v=g6a7_IYM6uA
“Ich hab's wollen wissen 1980“ - 🦌 -
Dank dir scheen - gell.
tomás zerolo
Wird schon. Wird mit dem Alter besser :-)
Und knuffen Sie Ihre gutartige Freundin unbekannterweise. Ich kann ihre wüsten Gefühle so gut nachvollziehen, dass ich feuchte Augen kriege.
Lowandorder
@tomás zerolo kurz - Ein Aufden Senkelsyndrom - 🥳 -