Über Sex reden nach dem Tod des Partners: Das doppelte Tabu
Warum spricht eigentlich nach einem Trauerfall niemand über den Verlust von Intimität? Diese Form der Trauer ist überhaupt nicht anerkannt.
W arum spricht eigentlich niemand über Sex, wenn’s um Trauer geht? Diese Frage habe ich mir nach dem Tod meines Ex-Freundes ständig gestellt. „Ich war dir nah. Kannte deine Arme, deine Beine, deine Brust. Dein schöner Körper im Feuer“, schrieb ich ein paar Tage nachdem wir seine Urne beerdigt hatten, auf einen der zahllosen Notizzettel von damals. Diese Art der Trauer war so anders als die Trauer, die ich kannte. Es fühlte sich an, als wäre die plötzliche Nichtexistenz seines Körpers in meinen Körper übergegangen, ich trug eine bleierne Taubheit in mir, die ich fast zwei Jahre lang nicht mehr loswurde.
Die U.S.-amerikanische Psychologin Alice Radosh nennt dieses Phänomen „sexual bereavement“ – die Trauer über den Verlust der sexuellen Intimität. „Ich war nicht vorbereitet auf den Schock und die Schwere dieser Trauer. Sie fühlte sich grundlegender an als der Verlust gemeinsamer Aktivitäten wie Konzertbesuche und Kanufahren. Das waren Dinge, die wir zusammen getan hatten. Hier ging es darum, wer wir zusammen gewesen waren“, schreibt sie in ihrem Essay „Taboo times two“ über den Tod ihres Mannes, mit dem sie über 40 Jahre verheiratet war.
Wenn sie versuchte, mit ihren Freund*innen darüber zu sprechen, stieß die über 70-Jährige auf pikiertes Schweigen. Auch Bücher halfen nicht weiter: „Ich machte mich auf die Suche nach einer Bestätigung, dass meine Gefühle nicht unangebracht waren. Ich las die Klassiker von Joan Didion und Joyce Carol Oates über den Tod ihrer Ehemänner. In zusammengenommen fast 700 Seiten fand ich keinen Hinweis auf die Trauer um ihre körperliche Beziehung, wie ich sie erlebte. Die unausgesprochene Botschaft, die mir entgegenschlug, lautete: Über Sex spricht man nicht.“
Eine Form, die nicht anerkannt ist
Daraufhin führte Radosh eine Studie unter Frauen durch, die 55 Jahre und älter waren. Das Ergebnis: Mehr als 70 Prozent der Befragten glaubten, dass sie Sex mit ihrem Partner vermissen würden. Fast ebenso viele würden über diese Gefühle mit vertrauten Menschen sprechen wollen. Gleichzeitig gaben über die Hälfte an, dass es ihnen nicht in den Sinn käme, das Thema bei einer trauernden Freund*in anzusprechen.
Wie krass muss das Schweigen sein, wenn man einen Menschen verliert, mit dem man nicht nur sein ganzes Leben, sondern auch sein gesamtes Intimleben verbracht hat? Radosh spricht hier von „entrechteter Trauer“. Eine Form der Trauer, die nicht anerkannt ist, und die – weder privat noch öffentlich – thematisiert werden darf. Ich hatte mit meinem Ex-Freund keine 40-jährige Beziehung.
Er war nicht der erste und nicht der letzte Mensch, mit dem ich in meinem Leben geschlafen habe. Und trotzdem quälte mich dieser körperliche Verlust. Darüber sollten wir sprechen. Laut und deutlich. Der Tod hat etwas mit unseren Körpern zu tun. Es sind unsere Körper, die kalt und leblos werden, dieselben Körper, mit denen wir lieben. Let’s talk about sex. And death. Baby.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene