US-Musikerin Leyla McCalla: Suche nach der verlorenen Schönheit

Die US-Musikerin Leyla McCalla arbeitet am Schallarchiv von Radio Haiti mit. Dadurch taucht sie tief in die Musikgeschichte der Karibik ein.

Die Musikerin Leyla McCalla mit einem Saiteninstrument

Leyla McCalla nutzt das Schallarchiv von Radio Haiti wie ein Brennglas Foto: No Cugny

Schaltet man den Sender Deutschlandradio ein, hört man in der Regel: Deutsch. Klar, sollte man meinen, dass ein landesweit ausgestrahltes Radioprogramm in der Sprache sendet, die die Bevölkerung auch versteht.

Nicht so in Haiti – zumindest nicht bis in die 1950er Jahre! Obwohl 90 Prozent der Menschen dort kein Französisch sprachen – die damals einzige Amtssprache beherrschte nur ein kleine Oberschicht – waren Radioprogramme auf Französisch. Deshalb war es eine Revolution, als Radio Haiti im Jahr 1957 begann, sein Programm in Kreyòl zu senden. So wurde der unabhängige Sender – später hieß er Radio Haiti-Inter – nicht nur zur zentralen Plattform für das gesellschaftliche Leben, sondern auch für politischen Aktivismus.

Ebenfalls 1957 wurde François „Papa Doc“ Duvalier zum haitianischen Präsidenten gewählt. Zunächst stand er für einen populistischen schwarzen Nationalismus. Bald schon wurde er zu dem sinistren Diktator, als der er auch in die Geschichtsbücher einging; 1971 übergab er die Macht an seinen ebenso zwielichtigen Sohn Jean-Claude, genannt Baby Doc. Kein Wunder also, dass Jean Dominique – anfangs Reporter bei Radio Haiti, er führte ab 1968 den Sender zusammen mit seiner Frau Michèle Montas – mit den Machthabern über Kreuz lag: Mit dem Duvalier-Regime ebenso wie allen Regierungen, die folgen sollten.

Ein kleines Wunder dagegen war, dass Dominique, zuvor als Agraringenieur ausgebildet, seine Intendanz mehr als ein halbes Jahrhundert durchhielt; auch zeitweilige Schließungen des Senders würgten sein Engagement für Demokratie und Bürgerrechte nicht ab. Im Jahr 2000 wurde Dominique ermordet, die genauen Umstände blieben ungeklärt. Zunächst betrieb seine Frau Michèle Montas den Sender weiter; 2003 wurde das Programm wegen der anhaltenden Bedrohung für die Mitarbeitenden eingestellt.

Es meckern die Ziegen, es flirrt die Luft

Diese bewegte Geschichte lieferte den Aufhänger für eine persönliche Spurensuche der US-Musikerin Leyla McCalla aus New Orleans. Seinen Anfang nahm das Projekt als Auftragsarbeit der Duke University in Durham/North Carolina: 2016 hatte die Hochschule das Schallarchiv von Radio Haiti erworben und ließ Calla daraus ein multidisziplinäres Bühnenprogramm entwickeln.

Leyla McCalla: „Breaking the Thermometer“ (Anti/Indigo)

Die Eltern der 36-jährigen Künstlerin waren noch in den Duvalier-Jahren aus Haiti in die USA übergesiedelt; mit der Zerrissenheit, ihre US-amerikanische und haitianische Identität betreffend, hat sich die Musikerin schon früher beschäftigt, etwa auf dem Album „Vari-Colored Songs: A Tribute to Langston Hughes“ von 2014.

Premiere hatte das Bühnenprogramm 2020, wenige Tage vor dem ersten Lockdown; danach wollte McCalla auf Tour gehen – und hatte plötzlich viel Zeit, die Songs weiter zu arrangieren. So entstand das vielschichtige, tolle Album „Breaking the Thermometer“.

Gleich mit dem Auftaktsong „Nan Fon Baw“ macht McCalla deutlich, dass es dabei nicht nur um Radio Haiti geht, sondern auch um ihre eigene Geschichte. Zu einem so forschen wie warmen Cello krähen die Hähne, meckern die Ziegen, flirrt die Luft: eine karibisch-tropisch-ländliche Klangkulisse. Eingebaut in McCallas Interpretation eines vom haitianschen Gitarristen Frantz Casseus komponierten Folksongs – entdeckt hat sie ihn im Radioarchiv – ist ein Gespräch mit ihrer Mutter. Die erzählt, wie Leyla sich als Kind nach einem Urlaub bei der Großmutter erstmals als Haitianerin begriff.

„In den tiefen Wald“, so der übersetzte Titel, ist für McCalla auch Erinnerung daran, dass Haiti eben doch mehr ist als das, was wir meist aus der Zeitung erfahren: Trotz aller Krisen und Tragödien gibt es in dem tropischen Inselstaat auch viel Schönheit und Kultur. Zum Projektanfang fragte McCalla sich, ob sie das Recht habe, die Geschichte des Radiosenders zu erzählen. Die studierte Cellistin hatte zwischen 2011 und 2013 bei der Grammy-prämierten Old-Time-Band The Carolina Chocolate Drops gespielt, und seither drei Soloalben veröffentlicht – zuletzt „Capitalist Blues“ (2019).

Symptomatische Verluste

Von dem neuen Auftrag fühlte sie sich schlichtweg überfordert. Wie lassen sich 5.000 Stunden Tonmaterial so bearbeiten, dass es der Geschichte des Senders, in dem auch so viel haitianische Geschichte steckt, annähernd gerecht wird. Dazu kommt, dass McCalla kein Kreyòl sprach – für sie durchaus schambehaftet: „Singen auf Kreyòl konnte ich, das lässt sich üben. Richtig verstanden habe ich die Sprache aber nicht. Und eigentlich müsste ich das“, erklärt sie der taz.

Ihr Vater half beim Übersetzen, Grundlagen erschloss McCallas sich durch die Songtexte. Diesen kulturellen Bruch hält sie für symptomatisch für die US-Gesellschaft, nicht für ein Manko ihrer individuellen Familiengeschichte. „Als ich das Projekt erstmals auf die Bühne brachte“, berichtet McCalla, „kamen Leute zu mir, die sagten: ‚Ich bin aus Nicaragua, mir geht es genauso‘. Oder was auch immer ihr Hintergrund war“.

Mit ihrem Album „Breaking the Thermometer“ feiert die Musikerin auch das musikkulturelle Erbe Haitis

Unter anderem interviewte sie Michèle Montas für das Projekt. „Sie ermutigte mich. Durch sie habe ich erst verstanden: Es gibt viele Menschen meiner Generation, die über ihre Eltern eine Verbindung zu Haiti haben, die Sprache aber nicht sprechen. Trotzdem suchen sie einen Bezug zu dem Land – und wollen mitgestalten, was dort passiert.“ Der karibische Inselstaat war schon immer besonders abhängig von der politischen Großwetterlage in den USA.

Das Archiv von Radio Haiti nutzt McCalla wie ein Brennglas. „Breaking the Thermometer“ ist ein Amalgam aus Eigenkompositionen, Archivmaterial und Folktraditionals, mit denen die Musikerin nicht zuletzt das vielschichtige musikkulturelle Erbe des Karibikstaats feiert.

Plantagenbesitzer im Schaukelstuhl

Rara etwa heißt ein Genre, bei dem häufig soziale Ungerechtigkeiten im Fokus stehen: Auf Haiti sind die geklöppelten Beats vor allem bei Festivitäten zu hören, etwa bei Straßenumzügen und im Karneval. Über die Entstehungsgeschichte des mitreißenden Rara-Tracks „Dodinin“ erzählt McCally, dass der Titel in Kreyòl „Rocking“ heißt und Bezug nimmt auf Plantagenbesitzer, die in ihrem Schaukelstuhl sitzen, während die Ar­bei­te­r:In­nen sich krumm machen.

Frohgemut, fast federnd wirkt „Fort Dimanche“, eine Komposition von McCalla – obwohl darin auch Erinnerungen eines Überlebenden des titelgebenden berüchtigten Gefängnisses eingeflochten sind. Bisweilen wirken die Tracks wie ein Hörspiel – und doch verliert dieses Album nie seinen musikalischen Flow.

Vergleichsweise melancholisch dagegen klingt das minimalistische „Ekzile“: mit elegischen Cello-Schichten. Als Montas und Dominique in den 1980er Jahren zeitweilig ins Exil gingen, galt es nicht nur den Verlust ihrer Heimat zu verdauen, sondern auch das Misstrauen, das ihnen in den USA entgegengebracht wurde. Auch McCalla sieht den Blick auf Haiti mit Vorurteilen befrachtet, die über einen generellen Rassismus hinausgehe: „Dass die haitianische Revolution die erste unabhängige schwarze Nation in der Weltgeschichte hervorbrachte, lernt man jedenfalls nicht in der Schule.“

Voodoo-Priester erklären

Dafür berichten die Nachrichten viel über Unterdrückung, Misswirtschaft und Naturkatastrophen; in der Populärkultur beschäftigt man sich bevorzugt mit dem Zombie-Mythos und den Voodoo-Praktiken. Vor dem Hintergrund, wie Letztere etwa in alten Hollywoodfilmen dargestellt wurden, fand McCalla die Reportagen im Radioarchiv, in dem Voodoo-Priester ihre spirituellen Praktiken erklärten, so überraschend wie erhellend.

Die Recherche brachte McCal­la nicht nur Einblicke in die Herkunftskultur ihrer Familie. Sie knüpfte auch daran an, was ihr schon auffiel, als sie 2009 von New York nach New Or­leans umzog: Wie weitreichend der Einfluss der haitianischen Kultur auf den südlichen Teil der USA ist.

Angeregt nicht zuletzt durch die Lektüre von Ned Sublettes Grundlagenwerk „The World That Made New Orleans: From Spanish Silver to Congo Square“ – eine transnationale Kulturgeschichte, die ­McCallas immer noch ins Schwärmen bringt – entdeckte sie in Louisiana vielerorts Spuren. „Vieles von dem, was Touristen heute nach New Orleans lockt, sei es die kreolische Küche oder die Musik, ist eng mit Haiti verknüpft.“ Auch ihr faszinierendes, manchmal geradezu soghaftes Album weckt Interesse an dem Inselstaat – nicht nur, weil seine Musik so großartig klingt.

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