US-Aktivistin über Streikorganisation: „Wir können Amazon schlagen!“
„Organizing“ heißt das Zauberwort linker US-Gewerkschafterinnen. Jane McAlevey erklärt, warum die deutsche Streikkultur ihr den Schweiß auf die Stirn treibt.
taz: Frau McAlevey, in deutschsprachigen Artikeln über das sogenannte Organizing heißt es oft, das sei die politische Methode, mit der Barack Obama Präsident geworden ist. Würden Sie dem zustimmen?
Jane McAlevey: Nein. Das war „Mobilizing“, Mobilisieren. Potenzielle Wähler*innen wurden von den Leuten in der Obama-Kampagne angesprochen, damit sie auch wirklich an die Urnen gehen und ihr Kreuz machen. Ich treffe oft politisch aktive Menschen, die sagen, dass sie andere „organisieren“. Sie sagen: Wir verteilen Flyer, wir sprechen Menschen an, wir laden Menschen zu einer Kundgebung ein, wir erstellen Facebook-Veranstaltungen, wir haben Treffen. Das ist aber Mobilisieren, nicht Organisieren.
Was ist falsch am Mobilisieren?
Es gibt aktuell viele gelungene Mobilisierungen in den Bereichen Klimawandel, Antirassismus, Antifaschismus, Mieter*innenbewegung. Die Proteste sind groß, bekommen viel Aufmerksamkeit. Beim Organisieren geht es aber darum, reale Macht langfristig aufzubauen. Es geht darum zu gewinnen. Ich habe das Organisieren bei Leuten gelernt, denen es wiederum von Gewerkschafts-Organizerinnen der 1930er beigebracht wurde. Die waren Mitglieder der CIO, der radikaleren der beiden großen Industriegewerkschaften in den 1930ern. Diese Gewerkschaft hatte damals viele Mitglieder, viel Macht und Einfluss. Die sind sehr strategisch vorgegangen. Sie haben sich notiert, wo viele Menschen arbeiten, wen sie schon erreicht haben und wen nicht. Dann sind sie die Fabriken durchgegangen, Etage für Etage, Büro für Büro, Abteilung für Abteilung, bis der Letzte überzeugt war, bis es eine maximale Beteiligung an den Streiks gab.
Das Ziel ist, dass alle streiken?
ist eine amerikanische Gewerkschafts-Organizerin und Autorin. Sie steht in der Tradition der radikalen Gewerkschaften der 1930er Jahre. In Vorträgen, Workshops und in ihren Büchern gibt sie ihr Wissen weiter, weil sie fest davon überzeugt ist, dass „Organizing“ ein Handwerk ist, das jede*r lernen kann. Auf Deutsch ist gerade ihr Buch „Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing“ erschienen.
Das muss das Ziel sein! Dass einhundert Prozent aller Arbeiter*innen streikbereit sind. Wenn ihr Deutschen sagt: „Drei Abteilungen haben ihre Arbeit niedergelegt“, dann bekomme ich als US-Amerikanerin Schweißausbrüche! In den USA würden die 30 Prozent einfach rausgeschmissen. Aber auch ihr solltet die 100 Prozent anstreben, denn nur so können wir eine Machtumkehr in der Gesellschaft erreichen. Nur so haben wir den mächtigen und reichen Unternehmen wirklich etwas entgegenzusetzen. Ihr müsst euch vorstellen: Was würde passieren, wenn die gesamte Belegschaft streikt? Wie würde der Vertrag aussehen, den ihr dann aushandeln könntet?
In den letzten Jahren gab es in den USA landesweit Massenstreiks von Lehrer*innen. Derzeit streiken die Lehrer*innen im kalifornischen Oakland. Beim ersten dieser Streiks in Chicago waren Sie aktiv. Mich hat erschreckt, wie lange die Vorbereitung dafür gedauert hat.
Es hat überhaupt nicht lange gedauert! 2006 haben die Lehrer*innen angefangen sich zu organisieren, 2012 fand schon der Streik statt. Das sind nur sechs Jahre.
Na ja, da braucht man schon viel Geduld.
2006 gab es erste Kämpfe gegen die massenhaften Schulprivatisierungen in Chicago. 2007, 2008 wurden dann immer mehr Schulen geschlossen. Die Leute, die das nicht hinnehmen wollten, trafen sich regelmäßig, lernten sich kennen. Immer öfter kam die Frage auf, warum die Gewerkschaft der Lehrer*innen nicht gegen die Schulschließungen kämpft, warum sie alleingelassen werden. Die Lehrer*innen bauten Gegenmacht in den Stadtteilen auf, indem sie sich mit radikalen Stadtteilinitiativen zusammentaten. Die sagten zu ihnen: Kümmert euch endlich um eure Gewerkschaft! In nur zwei Jahren haben die engagierten Lehrer dann dort die Mehrheit übernommen. Und dann haben sie sich eine Schule nach der anderen vorgenommen, haben mit den großen angefangen und sich bis zu den kleinen vorgearbeitet. Am Ende hatten sie jede wichtige Position in der Gewerkschaft besetzt, jedes Gremium gewonnen. Ab diesem Zeitpunkt hatten sie anderthalb Jahre Zeit, um den Streik vorzubereiten, weil dann ihre Verträge mit den Schulen ausgelaufen wären. Die neuen Verträge, die die Stadt im Sinn hatte, hätten die Situation der Lehrer*innen erheblich verschlechtert: weniger Geld, mehr Arbeit, weniger Gesundheitsversorgung. Das ging also alles richtig schnell, gemessen an dem, was sie leisten mussten. Und sie haben sich Hilfe geholt. Sie haben neue Leute eingestellt, wie zum Beispiel mich. 2012 fand dann der große Chicago-weite Streik statt. 98 Prozent aller Lehrer*innen haben mitgemacht, die Eltern haben geholfen, die Schüler*innen auch. Dabei dürfen Lehrer*innen in den USA nicht mal streiken, es ist verboten! Es wurde ein großer Erfolg. Am Ende hatten sie viel bessere Verträge!
Wie sorgen Sie dafür, dass die Arbeiter*innen sich nicht durch Angebote der Unternehmen spalten lassen?
Alle wichtigen Dinge müssen immer vorher besprochen werden. Wir machen eine große Versammlung, die Arbeiter*innen stimmen über die Verträge ab, die sie vorher selbst ausgearbeitet haben. Alle, die wollen, können mitmachen. Das sind oft riesige Versammlungen mit Tausenden Leuten! Wir schreiben unsere Vertragsbedingungen für alle gut lesbar auf, bevor wir abstimmen lassen – und der Punkt, dass wir uns nicht spalten lassen, muss auf die Liste mit drauf! Streiks dauern lange, sind kräftezehrend. Aber alle wissen dann vorab, worauf sie sich einlassen und was sie wollen.
Nicht nur im Pflege- und Erziehungsbereich, sondern auch in der Logistikbranche nehmen die Arbeitskämpfe zu. Woran liegt das?
Weil das die Bereiche sind, die nicht einfach in andere Länder outgesourct werden können. Walmart, Amazon, der Lieferservice – die brauchen Menschen vor Ort für die Logistik. Sie wollen sich ja auch dauernd gegenseitig überbieten, wer das Päckchen noch schneller liefert. Das ist ein strategisch sehr wichtiger Bereich, eigentlich sollten sich alle progressiven Gewerkschaften darauf konzentrieren, die Arbeiter*innen dort zu organisieren – und wir reden von Millionen ohne Gewerkschaft, die organisiert richtig viel Macht haben. Wir können Amazon schlagen!
Wir reden hier von den Arbeiter*innen. Wie aber setzt sich die Arbeiter*innenklasse in den USA zusammen? Von wem sprechen wir?
Die Arbeiter*innenklasse ist sehr bunt, natürlich gibt es auch weiße Menschen, aber sie machen nicht den größten Teil aus. Die ärmsten sind Frauen und Migrant*innen. Die Arbeiter*innenklasse in Amerika ist riesig. In den USA sind alle Teil der Arbeiter*innenklasse, die nicht zu den oberen 15 Prozent gehören, also die absolute Mehrheit. Und für die meisten dieser Menschen ist das Leben sehr hart, vor allem in den letzten Jahren. Und es wird immer schlimmer. Unsere Aufgabe ist es, ihnen zu zeigen, dass sie sich befreien können, dass es eine Alternative für sie gibt.
Aber derzeit wählen viele Arbeiter*innen Trump.
Ja, viele erzählen uns, dass sie Trump wählen. Diese Menschen werden wir nicht alleine mit Gegenargumenten überzeugen. Wir müssen ihnen eine konkrete Vision eines besseren Lebens aufzeigen, die sie selbst umsetzen können.
Wir sprechen die ganze Zeit über linkes „Organizing“. Können die Rechten diese Techniken nicht genauso anwenden?
Das tun sie doch bereits! Die NRA, die National Rifle Organization, hat die Menschen organisiert, die Donald Trump gewählt haben. Das ist komplett unter dem Radar der Demokraten abgelaufen, weil sie keine Ahnung vom Organisieren haben. Die Rechten haben genau das gemacht, was ich predige: Sie sind strategisch vorgegangen und sie haben einen genauen Plan verfolgt. Die Demokraten haben Top-Leute eingestellt, um für Hillary Clintons Wahlkampf zu mobilisieren, währenddessen hat die NRA wirklich Menschen organisiert. Wenn die NRA ihre jährliche Konferenz abhält, kommen über eine Million Menschen. Welche linke Organisation kann das von sich behaupten? Nur die Methoden der Rechten unterscheiden sich von unseren: Sie vereinen nicht gegen den Chef, sondern sie spalten, zum Beispiel gegen Migrant*innen, gegen Frauen, die keine Hausfrauen sind. Aber das machen sie sehr effektiv. Und wenn ich sehe, wie jetzt der nächste Präsidentschaftswahlkampf losgeht, wird es sich wahrscheinlich genauso wiederholen, weil die Medien und die Demokraten seit 2016 nichts gelernt haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“