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UN-Hilfskoordinator über Nordsyrien„Bereiten uns aufs Schlimmste vor“

Zehntausende Zivilisten in Nordsyrien sind auf der Flucht. Panos Moumtzis, Leiter des UN-Hilfseinsatzes, fordert Zugang zu allen Bedürftigen.

Eine syrische Familie flieht aus Ras al-Ain in Nordsyrien Foto: Rojava Media Center via ap
Karim El-Gawhary
Interview von Karim El-Gawhary

Kairo taz | Zwei Tage nach Beginn der türkischen Militäroffensive in Nordsyrien sind nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mehr als 60.000 Menschen aus dem Kriegsgebiet geflohen. Hunderttausende Zivilisten sind nach UN-Angaben unmittelbar in Gefahr. Die taz sprach mit Panos Moumtzis, dem UN-Koordinator für humanitäre Angelegenheiten in Syrien, über die Folgen für die Zivilbevölkerung.

taz: Herr Moumtzis, Syriens Nordosten ist für internationale Hilfsorganisationen kein unbeschriebenes Blatt. Bereits vor der Militäroffensive war die Lage dort nicht einfach.

Panos Moumtzis: Im Nordosten Syriens leben ungefähr 2,1 Millionen Menschen, darunter 400.000 Binnenflüchtlinge, die vor der jüngsten Entwicklung vertrieben wurden. Die humanitären Organisationen vor Ort helfen dort monatlich ungefähr 800.000 Menschen. Die Hilfslieferungen kommen einerseits aus den Gebieten, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden, andererseits aus dem Irak.

Was erwartet die Menschen vor Ort jetzt?

Die humanitären Organisationen hoffen auf das Beste, bereiten sich aber auf das Schlimmste vor. Wir hoffen, dass nicht noch mehr Menschen vertrieben werden und dass wir Zugang zu jenen bekommen, die unsere Hilfe brauchen. Humanitäre Organisationen erstellen natürlich immer Notfallpläne.

Zehntausende sollen bereits die Flucht ergriffen haben. Wohin fliehen die Menschen?

OCHA
Im Interview: Panos Moumtzis

ist Syrien-Koordinator der UN-Nothilfsorganisation Ocha. Er hat Politikwissenschaft und Nahoststudien in Athen und Exeter studiert.

Noch ist es zu früh, um zu wissen, wie viele Menschen fliehen und wohin sie fliehen. Die meisten scheinen Richtung Süden zu fliehen, also in andere Teile Syriens, die von nichtstaatlichen Akteuren kontrolliert werden. Aber sie könnten auch Richtung Irak fliehen oder in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden.

Wichtig ist, dass die lokalen Akteure und das türkische Militär den humanitären Organisationen Zugang gewähren und deren Operationen erleichtern. Sie müssen den Schutz der Mitarbeiter garantieren, aber vor allem auch den Schutz der Menschen, die die Hilfe nötig haben. UN-Generalsekretär António Guterres hat gesagt, dass der Schutz der Zivilisten gewährleistet sein muss und dass internationales humanitäres Recht eingehalten werden muss.

Sind Sie vorbereitet, falls sich die humanitäre Krise ausweitet?

Bisher können wir die Zahlen managen und haben Operationen und auch Lagerkapazitäten vor Ort. Aber was die Finanzierung angeht, sind wir an einem kritischen Punkt. Gerade einmal 40 Prozent sind abgedeckt. Diese Krise haben wir nicht vorhergesehen in unserer Budgetierung und Planung 2019. Wir brauchen mehr Finanzierung und mehr Teams vor Ort, sollte das länger andauern und eskalieren.

Die Arbeit des UN-Koordinators für humanitäre Angelegenheiten in Syrien lässt sich wohl mit Sisyphos vergleichen. Man rollt den Stein den Berg hoch, damit er auf der anderen Seite wieder herunterrollt. Wieder ein neuer Krieg.

Was Syrien braucht, ist Frieden und Stabilität. Die Menschen haben genug von einem Krieg, der schon viel zu lange dauert. Wir sprechen von acht bis neun Jahren Konflikt. Die meisten Syrer haben die Nase einfach voll.

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