Folgen von US-Abzug: Ein neues Kapitel in Syrien

Die Entscheidung des US-Präsidenten, Soldaten von der türkisch-syrischen Grenze abzuziehen, hat schwere Folgen. Wer verfolgt welche Interessen?

Zwei US-Soldaten in Uniform von hinten an der syrisch-türkischen Grenze

US-Soldaten in der Sicherheitszone an der syrisch-türkischen Grenze Anfang September 2019 Foto: Maya Alleruzzo/ap

Es geht um wenige Dutzend Soldaten, doch mit dem Abzug des US-Militärs von der türkisch-syrischen Grenze hat Präsident Donald Trump ein neues Kapitel des Syrienkonflikts aufgeschlagen. Eine türkische Militäroffensive ins kurdisch kontrollierte Nordostsyrien könnte nun jederzeit kommen. „Alle Vorbereitungen für den Einsatz sind abgeschlossen“, teilte das türkische Verteidigungsministerium am Dienstag mit. Die Verlegung der US-Soldaten, die dem Einmarsch im wahrsten Sinne des Wortes im Weg standen, lenkt die Aufmerksamkeit auf einen kaum beachteten Teilkonflikt des Syrienkriegs: die umstrittenen Gebiete östlich des Euphrats.

Dort haben kurdische Kräfte im Schatten des Sy­rienkriegs unter Führung der Partei PYD einen Quasistaat aufgebaut: mit eigener Verwaltung und Streitkräften, den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF). Die Kinder lernen nicht nach dem ideologisch durchtränkten Curriculum des syrischen Regimes, sondern nach neuen, von den kurdischen Machthabern erstellten Lehrplänen. Die sogenannte „Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien“ umfasst etwa ein Drittel des syrischen Staatsgebiets, ist international vernetzt und unterhält sogar inoffizielle Vertretungen im Ausland – etwa in Berlin.

Das Kurdengebiet ist neben Idlib, wo sich weiter Anti-Assad-Rebellen halten, das zweite große Gebiet, das sich der Kontrolle von Damaskus entzieht. Den Rest des Landes haben Regierungstruppen mit russischer Unterstützung zurückerobert. Die Kurden kontrollieren aber mit den Städten Rakka und Dair al-Saur, die sie von der Terrororganisation „Islamischer Staat“ befreit haben, auch zwei mittelgroße urbane Zentren. Doch nicht alle Gebiete unter PYD-Kontrolle sind mehrheitlich kurdisch besiedelt. Rakka etwa ist mehrheitlich arabisch. Auch an der Grenze zur Türkei gibt es Landstriche, in denen Kurden in der Minderheit sind.

Syriens Präsident Baschar al-Assad will ganz Syrien wieder unter seine Kontrolle bringen. Die Kurden aber wollen für ihre Unabhängigkeit kämpfen. Auch wenn sie keinen eigenen Staat fordern, wollen sie ihre Autonomie behalten und ihre Streitkräfte nicht auflösen. Eine politische Lösung dieses großen Teilkonflikts in Syrien liegt in weiter Ferne.

Die wichtigsten Player im Überblick
Die Türkei

Für Ankara ist klar: Hinter der Grenze zu Syrien regiert mit der syrisch-kurdischen PYD ein Ableger der türkisch-kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans. Die PKK kämpft seit 1984 für die Abspaltung oder Autonomie der Kurdengebiete in der Türkei – was erklärt, dass die Türkei einen kurdischen Quasistaat in Nordsyrien mit allen Mitteln verhindern will. Präsident Recep Tayyip Erdoğan fordert die Einrichtung einer Pufferzone zwischen den syrischen Kurdengebieten und der Türkei. Mit gemeinsamen Patrouillen im syrischen Grenzgebiet haben Ankara und Washington im September begonnen.

Nun aber droht Ankara wieder mit einer großangelegten Militäraktion. Am Dienstag schickte die Regierung weitere Soldaten und gepanzerte Fahrzeuge an die Grenze. Zudem waren Transporter mit Panzern in Richtung Şanlıurfa unterwegs. Unklar ist indes, wie weit die Türkei vordringen würde, wenn es zu einem Einmarsch käme. Erdoğan hat von einer bis zu 35 Kilometer tiefen Zone entlang der syrisch-türkischen Grenze zwischen dem Euphrat und dem Irak gesprochen. Mit der Besetzung eines solch großen Gebiets dürfte jedoch auch das türkische Militär überfordert sein. Wahrscheinlich ist, dass sich die Armee erst auf ein rund 120 Kilometer langes Grenzgebiet zwischen Tal Abjad und Ras al-Ain konzentrieren wird.

Die USA

Andere sollen die vertrackte Situation ausklamüsern: Das ist ein Leitmotiv der Syrienpolitik von US-Präsident Donald Trump. „Es ist Zeit, dass wir da rauskommen“, bekräftigte er am Montag sein Ziel, US-Soldaten nach dem Sieg gegen die Terror­organisation „Islamischer Staat“ (IS) aus Syrien abzuziehen. Es war eines von Trumps zentralen Wahlkampfversprechen, Soldaten aus den Konflikten in der Region zurückzuholen. Dabei sind ohnehin nur noch zwischen 1.000 und 2.000 US-Soldaten im Nordosten Syriens stationiert. Am Montag räumten einige Dutzend US-Soldaten ihre Stellungen in Tal Abjad und Ras al-Ain, was allerdings nicht einen kompletten US-Abzug aus Nordostsyrien bedeutet, sondern vor allem als grünes Licht gewertet wurde für einen Einmarsch der türkischen Armee in das von Kurden kontrollierte Gebiet. Die USA stehen den Plänen Erdoğans skeptisch gegenüber, jedoch machten sie klar, dass sie weder die Kurden beschützen noch eine türkische Offensive unterstützen werden.

Die Kurden

Gegen eine Offensive der türkischen Armee hätten die syrischen Kurden kaum eine Chance, auch wenn die Selbstverwaltung mit den SDF über eine schlagkräftige Truppe verfügt. Für sie steht das gesamte kurdische State-Building-Projekt in Syrien auf dem Spiel. Dementsprechend kämpferisch gibt sich SDF-Sprecher Mustapha Bali: Man werde „nicht zögern, jeden Angriff von türkischer Seite in einen umfassenden Krieg entlang der Grenze zu verwandeln, um uns und unser Volk zu verteidigen“.

Die YPG-Miliz, die wichtigste Einheit des SDF-Bündnisses, war maßgeblich am Kampf gegen den IS beteiligt, der seit März als besiegt gilt. Die YPG fungierte dabei als Bodentruppe der US-geführten Militärkoalition gegen die Dschihadisten. Die kurdische Führung fühlt sich nun verraten von den USA. Trump hat deutlich gemacht, dass das Schicksal seiner ehemaligen Verbündeten für ihn keine Priorität hat. Die Kurden seien zum Teil „natürliche Feinde“ der Türkei, sagte er am Montag. Gleichzeitig warnte ein US-Regierungsvertreter die Türkei allerdings vor einem „Massaker“ an den Kurden.

Russland

Erstaunlich wenig Kritik an den türkischen Einmarschplänen kommt aus Moskau. Aus dem Kreml hieß es am Montag, die Türkei habe ein Recht auf Selbstverteidigung, gleichzeitig sagte ein Sprecher, dass Syriens territoriale Integrität gewahrt bleiben müsse. Die russische Regierung hat das Assad-Regime bei der Rückeroberung der von Rebellen gehaltenen Gebiete seit 2015 militärisch stark unterstützt.

Seit April nun stoßen russische und syrische Truppen in die Provinz Idlib vor, die noch immer von Anti-Assad-Rebellen gehalten wird. Allerdings ist die Türkei mit eigenem Militär sowie mit verbündeten protürkischen Milizen in Idlib präsent. Beobachter mut­maßen, dass es zu einem Deal kommen könnte: Während die Türkei gegen die Kurden östlich des Euphrats vorgeht, zeigt sie sich zu einem Rückzug aus Idlib bereit. Das würde Moskau und Damaskus ermög­lichen, die Provinz vollständig zurückzuerobern.

Das Assad-Regime

Seit Beginn des Syrienkrieges 2011 hat sich die Regierung in Damaskus aus dem großen, vergleichsweise dünn besiedelten Gebiet östlich des Euphrats zurückgezogen. Das ermöglichte den Kurden, dort weitgehend autonom den Aufbau eigener politischer Strukturen voranzutreiben. Doch von seinem Ziel, das gesamte syrische Staatsgebiet wieder unter Kontrolle zu bringen, hat das Assad-Regime nie abgelassen. Obwohl der angekündigte türkische Einmarsch in Nordsyrien die Kurden deutlich schwächen würde, verurteilte die syrische Regierung die Pläne.

Vizeaußenminister Faisal Mekdad sagte der Zeitung al-Watan, sein Land werde keine „Besetzung syrischen Bodens“ akzeptieren. Die Kurden rief er auf, sich mit der Assad-Regierung zu versöhnen. Verhandlungen zwischen Damaskus und der kurdischen Führung über eine politische Lösung waren im vergangenen Jahr ergebnislos zu Ende gegangen. Hauptstreitpunkte: der angestrebte Autonomiestatus der Kurden und die Zukunft der kurdischen Milizen.

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